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Berlin: Hedy Wöhlke (Geb. 1912)

Nur die Mädchen klagen über das Älterwerden

Tut so, als wäret ihr Spanierinnen. Sagte sie den Berlinerinnen. Der Ingenieurin, Mitte 60, der Steuerberaterin, Mitte 40, der Ärztin und der Verkäuferin. Ihren Mädchen. Fiel ihnen nicht leicht, das Feurige und Temperamentvolle. Hedy, Mitte 90, hatte das Spanische einfach im Blut, schon immer, obwohl sie aus Thüringen kam.

Durch Spanien führten sie mehrere Tanztourneen. Muss in den Sechzigern gewesen sein. Das „Hedy-Wöhlke-Ballett“ bestand aus mehr als 30 Damen, eine Girlreihe wie die aus dem Friedrichstadtpalast. Den Cancan haben sie getanzt, schwierige Formationen, ein kreisendes Kreuz, da musste jeder Schritt, jede Schrittlänge sitzen. Und wenn das Kreuz irgendwo einknickte, die Linien nicht mehr schnurgerade an ihr vorbeidefilierten, konnte Hedy richtig wütend werden. Dann schmetterte sie ihre Kommandos in die Girlreihe, dass die Glieder zusammenzuckten.

Sie war eine strenge Ballettlehrerin, aber das Strengsein gehört zum Ballett wie das Tütü oder der Spagat. Der klassische Tanz ist unnachgiebig, geradezu unmenschlich, weil er das Schinden verlangt und den Schmerz verachtet. Hedy war streng, aber sie lobte auch und nahm in den Arm. Wer sich ihrem Regiment anvertraute, durfte an ihrer unerschöpflichen Energie, ihrer Lebenslust teilhaben.

Als sie 14 war oder 16, ging Hedy mit einer Freundin zum Erfurter Theater. Dort suchten sie einen Puck für den Sommernachtstraum. Ihre Freundin wollte sich bewerben, Hedy begleitete sie nur, doch der Regisseur ließ beide vorsprechen, und der Puck wurde Hedys erste Rolle. Danach ergab sich alles wie von selbst. Hedy entflammte jedes Mal, wenn sie das Publikum spürte. Sie war klein und zart, konnte sich aber in Posen werfen, dass es einem den Atem raubte.

Sie unterrichtete und choreografierte in der Staatsoper, doch das politische Drumherum in der Hauptstadt der DDR wurde ihr unangenehm. 1956 ging sie ein paar Straßen weiter, auf die Westseite der Stadt, und eröffnete eine Schule für Ballett und Akrobatik. Die Schule zog später um, von Kreuzberg nach Charlottenburg. Die Jahrzehnte vergingen, aber Hedy blieb vom Wandel der Zeit seltsam unberührt. Sie war die Ballettmeisterin, und die Schülerinnen waren ihre Mädchen.

Hedy sagte Sätze wie: „Je länger der Hals, desto schöner die Tänzerin“. Der Schwan, der stolz über den See gleitet, verkörperte für sie das Leben. Hedy glitt also stolz über die tiefen Wasser ihrer Tage. Was sie nach außen verkörperte, strahlte auch nach innen, gab ihr Gewissheit und Lebensmut. Einmal im Jahr fuhr sie nach Andalusien, um sich vom Berliner Winter zu erholen und das innere Feuer zu schüren.

Hedy wurde 80, sie wurde 90, und nichts schien sich zu ändern. Nur die Mädchen klagten über das Älterwerden, hier ein Zwicken im Rücken, da ein Ziehen im Bein. Hedy sprach nie über Schmerzen, also waren auch keine da. Wenn eins der Mädchen jammerte, sagte Hedy: „Seid froh, dass ihr euren Körper spürt, dann ist er in Bewegung“.

Sie machte immer alles alleine, die Buchhaltung, die Abrechnungen, die Steuer, die Reinigung. Als sie jung war, gab es mal einen Ehemann, einen Schauspieler, der Winter hieß mit Nachnamen. Das machte sich gut auf den Autogrammkarten. Hedy Wöhlke-Winter. Der Ehemann verehrte nicht nur sie, sondern auch andere Frauen, da ließ Hedy sich bald wieder scheiden.

Treuer als die Männer waren ihre Schülerinnen. Die Gruppen, Ballett und Musik-Gymnastik, wurden mit der Zeit kleiner, weil mehr Mädchen starben als neue hinzukamen. Hedy kommandierte und zählte die Schritte. Wenn jemand schwatzte, sagte sie: „Reden könnt ihr nachher.“ Duschen gab es nicht in ihrer Schule. Das fanden jüngere Schülerinnen nicht mehr zeitgemäß. Für die älteren war Hedy die Chance, einmal in der Woche wieder das Mädchen zu sein, das sich der Autorität seiner Lehrerin anvertraut. Alles andere spielte keine Rolle.

Die Gymnastikgruppe übte den Tango Brillante, die Ballettgruppe einen Tanz nach der Musik „Der Schwan“ aus Karneval der Tiere. Immer Montag und Dienstag. An einem Sonntag ist Hedy dann nicht mehr aufgewacht. Thomas Loy

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