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Berlin: Hartmut Esch (Geb. 1949)

"Ohne Vorkasse kann er die Wohnung abhaken!"

Auf fünf zusammengeschobenen, mit rotem Samt überzogenen Spieltischen stehen drei Champagnerflaschen, ein Liter Wodka, blaue Plastikflaschen mit Wasser, viel Bier und eine Flasche teurer Whisky. Vor den Flaschen sitzen 18 Männer und fünf Frauen, an 23 Handgelenken glitzern dicke goldene Uhren. Die Atmosphäre erinnert an ein Klassentreffen, einige scheinen sich seit Ewigkeiten nicht gesehen zu haben, andere waren nie getrennt. Aus den Gesichtern strahlt eine seltene Mischung von Schalk, Gelassenheit, Neugier und Unsicherheit. Gevatter Tod hat sie wieder mal zusammengeführt.

Hartmut, genannt Eiche, gehörte in die Klasse, aus der sich vorher schon Ebsenpaule, Pistolenmanne, Lügengünter, Manne Brumme und Schweinerainer in die ewigen Jagdgründe verabschiedet haben.

Eiche erblickte in Aachen kurz nach Gründung der Bundesrepublik das viel zu helle Licht der Welt. Die Mutter erhängte sich nach Hartmuts Einschulung, und der Vater half in den wenigen Schuljahren seinem Sohn vor allem dabei, die Vorzüge des Nachtlebens zu erkunden.

Eine Lehre als Koch war für Hartmut Esch der Schlüssel zum Tor der Welt. Er stieß es nur einmal auf: 1971 Berlin. Dort entkam er der Wehrpflicht. Der Kiez an der Potsdamer Straße nahm den kleinen, immer fröhlichen Mann sofort in seine Arme. Der nach außen zerbrechlich wirkende Hartmut mit dem nie verloren gegangenen Aachener Dialekt, genoss bei den Frauen vom Kiez und deren Beschützern sofort Schutz und Obdach. In der Gastronomie wurde er schnell zum zuverlässigen und immer pünktlichen Geselligkeitsgaranten, dem man schon mal 50 Blankopässe anvertraute, die er in einem Tiefkühlfach zwischen Wodkagläsern und Tomatensauce versteckte.

Hartmut verstand das Nachtleben exzellent – sein Vater hatte ihm ja schon früh das Tageslicht förmlich verboten. Die Frauen an Eiches Seite mochten das nie, und Hartmuts lebenslanger Traum von einer eigenen Familie erfüllte sich ebenso wenig wie der vom unermesslichen Reichtum.

Die Goldgräberstimmung 1990 erfasste auch Eiche: Lederjacken im Wert von 800 000 Mark kamen da gerade recht, denn das hungrige Neudeutschland sollte nun modisch und gewinnbringend uniformiert werde. Als fliegender Händler kümmerte sich Hartmut mehr um den Absatz als um den Ursprung der Ware. Die Staatsanwaltschaft such- te einige Zeit nach den verschwundenen Jacken und fand mit ihnen den zierlichen Aachener. Am Ende war es das schmächtige, freundliche und immer hilflos wirkende Erscheinungsbild von Hartmut Esch, das den Richter milde stimmte: Es blieb bei 2000 Euro Geldstrafe und wenigen Haftnächten.

Freunden blieb Hartmut immer treu, und wenn ein neuer hinzukam, nutzte er ihn gern, um in neuen Geschäftsfeldern sein Glück zu suchen. Das Wohnungsvermietungsgeschäft sollte nach dem desaströsen Lederdeal so ein gewinnbringender Neubeginn werden.

Das Maklergeschäft erfordert Akkuratesse und Pünktlichkeit – beides für Eiche gar kein Problem. Ein hellbrauner langer Kaschmirmantel und die goldene Brille mit getönten Gläsern ließen ihn weit größer erscheinen als er war. Bei Wohnungsbesichtigungen verteilte er gern Dutzende Businesskarten aus dünnem Druckerpapier, auf denen nur „Eiche“ und eine Mobiltelefonnummer zu lesen war. Die Wohnungsvermietungen waren für ihn erstmals ein Geschäft, das vornehmlich am Tag abzuwickeln war. In den Nächten hätte er nun schlafen müssen, aber auf Freunde, Bier und Cannabis mochte er keinesfalls verzichten. Trotzdem stand Eiche wie eine Eiche am nächsten Morgen vor den Wohnungssuchenden, um die Vorkasse und das restliche Prozedere zu regeln.

Manchmal, wenn ihm das Verhältnis des Vermittlungshonorars zu seinem Aufwand ungünstig erschien, verkaufte er Neumietern die Einbauküche des Eigentümers. Oder aus dem Linoleum mit Parkettaufdruck wurden im verbindlichen Aachener Akzent „Holzfußböden vom Allerfeinsten“. Dem späteren Zorn des Geprellten begegnete Eiche gekonnt einsichtig und verständnisvoll – entwaffnend.

Recht spät, erst im Hospiz, verfasste Hartmut eine Patientenverfügung, aber noch viel später, der winzige, kranke Mann war kaum noch zu sehen, hörte man Eiche noch energisch ins Telefon rufen: „Ohne Vorkasse kann er die Wohnung abhaken!“

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