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Berlin: Hans-Joachim Giller (Geb. 1929)

Eines Tages wollte er auch fliegen, frei sein

Von David Ensikat

Bei Binz auf Rügen lag er auf dem Feld und schaute in den Himmel. Dort, ganz weit oben, sah er die Flugzeuge langsam ihre Streifen ziehen. Leuchtendes Weiß auf dunklem Blau, was für ein friedliches, schönes Bild. Eines Tages wollte er auch fliegen, frei sein, selbst bestimmen wohin es ging, nach links oder rechts, oben oder unten.

Man wird doch noch träumen dürfen, in Zeiten wie diesen erst recht. Hans-Joachim Giller befand sich im Kriegseinsatz. Auf dem Feld war er, um Gräben auszuheben, sinnlose Panzersperren: Als ob ein russischer T34 so einen Graben nicht überrollen würde. Als ob so ein Graben irgendwas ändern würde an der Katastrophe dieses verlorenen Krieges. Als ob es die Flugzeuge da oben nicht gäbe, die den Tod brachten. Bomberstaffeln waren es, die am hellen Tag über Deutschland flogen, weil die Deutschen ihnen nichts mehr entgegenzusetzen hatten.

Wegen der Bomben, die seit 1943 auf Berlin fielen, war seine Spandauer Schule nach Rügen evakuiert worden, „Kinderlandverschickung“ nannte sich das. Einmal, im Herbst 1944, durfte er auf Sonderurlaub nach Berlin. Sein Vater war im Krieg gefallen und seine Mutter zum zweiten Mal ausgebombt. Mit dem Fahrrad fuhr er nach Rügen zurück, vorbei an Flüchtlingsströmen aus dem Osten und Plakaten: „Sieg oder Bolschewismus“. Er war 15 Jahre alt, Kindheit und Jugend waren dahin. In der Scharfen Lanke hatte er gebadet, damals, vor Monaten, die weiter zurücklagen als Jahre, Flugzeugmodelle hatte er gebaut, von Brücken geworfen und gehofft, dass sie möglichst weit flogen.

Jetzt aber war Krieg. Im Februar ’45 organisierte der Schuldirektor, ein alter Nazi, die Flucht von Rügen nach Dänemark. Dort gelangten die Schüler in ein Internierungslager. Nach zwei Jahren kamen sie frei.

Zurück in Berlin, besser gesagt in Spandau, besuchte der längst erwachsene Hans-Joachim Giller noch einmal die Schule, machte das Abitur und wollte Medizin studieren. Das aber konnte er sich nicht leisten, zu lang und zu teuer wäre die Ausbildung geworden. So wurde er Lehrer, lernte die Frau, die er heiraten und mit der er zwei Kinder bekommen sollte, beim Studium kennen, zog mit ihr nach Hamburg, weil Lehrer dort mehr verdienten als in Berlin, sie bezogen ein enges Zimmer, sparten, kauften ein Reihenendhaus, zahlten über Jahre einen Mercedes ab, verkauften das Reihenendhaus, kauften ein Grundstück, bauten ein Haus. Der Krieg lag Jahre zurück, die wie Jahrzehnte waren, es gab so viel zu tun, dass die alten Geschichten unberührt blieben. Was für ein Glück, das Plakat hatte gelogen: kein Sieg, kein Bolschewismus. Ein neues Leben.

Und was für eins. Hans-Joachim Giller war Lehrer an der Grundschule, später an der Pädagogischen Hochschule – er hatte viel Freizeit. Zeit, vom Fliegen nicht nur zu träumen, sondern es zu praktizieren! Er wurde Segelflieger, einer von jenen, die sich mithilfe einer Seilwinde vom Boden lösen und allein von der Luft in die Höhe befördert werden. Die Freiheit, selbst zu bestimmen, wohin die Bewegung geht, nach links oder rechts, oben oder unten, ist keine motorenumtoste, benzinverbrennende. Allerdings ist auch sie eng begrenzt, denn der Segelflieger braucht jene Winde und Lüfte, die ihn nach oben tragen, er hält Ausschau nach entsprechenden Wolkenformationen, Feldfarben und Bodenerhebungen, und findet er sie nicht oder missdeutet sie, geht es hinab. Einer seiner längsten Flüge endete nach 500 Kilometern in einer Karlsruher Gärtnerei.

Nach dem Fall der Mauer kehrte Hans-Joachim Giller nach Spandau zurück, lebte mehr als zehn Jahre in seiner alten Heimat, um wegen einer neuen Liebe die letzten Jahre doch noch in Hamburg zuzubringen. Über seine Erlebnisse während des Krieges weiß seine Tochter wenig. Man sprach darüber nicht. Ein Freund von ihm aus alten Schultagen kann sich noch erinnern. David Ensikat

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