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Berlin: Günter Berger (Geb. 1926)

Zur Hochzeit in Prenzlauer Berg wurde Erbsensuppe serviert

Sein Vater war Markthelfer, die Mutter schneiderte. Zu fünft bewohnten sie eine winzige Wohnung in Prenzlauer Berg. Schlafraum, Wohnküche, Außentoilette. Als die finanzielle Not zu groß wurde, ging die Mutter mit ihm zu Aschinger, dem Bier- und Brotmagnaten. Günter war 13 Jahre alt und hatte die achte Klasse abgeschlossen. Er könne morgen als Bote anfangen, sagte man ihr. Es war der 23. Dezember 1940, sein erster Arbeitstag war Heiligabend. Er musste viele Geschenke ausliefern. Selber bekam er keines.

Ehrgeizig durchlief er die Stationen: Bote, Brotfahrer, Vertrieb. Dann musste auch er in den Krieg, kam an die Front, geriet in russische Gefangenschaft und kehrte 1946 wieder heim. Im Betrieb gab es viele Kriegswitwen, die ihre Kinder durchbringen mussten. Eine von ihnen kam mit ihren beiden Söhnen nicht klar. Entschlossen übernahm er die Vaterrolle und sprach auf die Jungen ein. Sein Ton war bestimmt, aber nicht bestimmend. Er strahlte Ruhe und Geradlinigkeit aus. Die Söhne behielten die Szene ihr Leben lang in guter Erinnerung.

Im Betrieb lernte er auch seine Frau kennen, die als Aufbauhelferin eingesetzt war. Zur Hochzeit in Prenzlauer Berg wurde Erbsensuppe serviert. Zwei Wochen nach der Gründung der DDR kam die Tochter zu Welt. Der Platz in der elterlichen Wohnung reichte vorn und hinten nicht, aber das focht Günters Optimismus nicht an. Im Gegenteil, er begann neben der Arbeit ein Fernstudium der Ökonomie.

Im neu gegründeten Backwarenkombinat wusste man seinen Ehrgeiz und seine Kompetenz zu schätzen; er wurde Hauptbuchhalter, schließlich ökonomischer Direktor. Die Stadt musste mit Brot und anderen Backwaren versorgt werden. Er wusste: Brot ist mehr als nur ein Magenfüller. Gibt es zu wenig davon, fängt Magenknurren an, das schnell übergeht in ein kollektives Grummeln. Potenziellen Versorgungsengpässen begegnete er mit soliden Wirtschaftsplänen. Und er beteiligte sich an der Entwicklung nervenberuhigender Substanzen. Bald stellte sein Kombinat auch Eis und Schokoküsse her.

Er war ein hingebungsvoller Hobbygärtner und erntete Gemüse und Obst in seinem fast 900 Quadratmeter großen Gartenidyll mitten im Villengebiet von Bergfelde, nördlich von Berlin. Der Garten war familiäres Refugium und individuelle Eremitage in einem. Als ihm eine wohlhabende Tante aus dem Westen auch noch das Geld für einen Wartburg schenkte, war er glücklich. Mancher Kollege guckte missbilligend. Günter Berger war jedoch selbstbewusst genug, das Geschenk der Tante als legalen und dem Land Devisen verschaffenden Glücksumstand darzustellen. Beim Betriebsjubiläum, das er traditionell am 24. Dezember nach Dienstschluss mit den Kollegen feierte, wurde die Sache besprochen und begossen. In der Familie wiederum hing der Haussegen schief. Es war nicht das erste Mal, dass der Tannenbaum mit großer Verspätung aufgestellt und geschmückt werden konnte, da Vater auf sich warten ließ.

Kurz nach dem Ende der DDR ging er in Rente. Für ihn war das ein Glück, denn wie so viele DDR-Betriebe musste auch das Backwaren-Kombinat aufgelöst werden. Er sah das mit Bedauern. Auf der anderen Seite hatte er sein Soll erfüllt: An Brot-Engpässen war die DDR nicht zugrunde gegangen. Getrost ging er zum Angeln und Gärtnern über. Tochter und Sohn waren in guten Händen, die Enkel auf bestem Weg. Und er hatte eine neue kleine Laube in Zeuthen.

Wenn ihm eine Diskussion zu viel wurde, zog er sich unter seine Kopfhörer zurück und hörte André Rieu. Die diamantene Hochzeit, die die Tochter für ihre Eltern organisierte, entschädigte für alle geplatzten Heiligabende.

Anfang des Jahres kam seine Frau ins Krankenhaus. Er zog zu seiner Tochter, selbst gerade nach einem Infarkt auf dem Weg der Besserung. 18 intensive Tage erlebten sie, dann fiel er nach dem Abendessen um und war tot. „In den paar Tagen sind wir uns noch einmal richtig nahegekommen“, sagt die Tochter. Für sie war er ein großes Vorbild. Stephan Reisner

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