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Spitzenkandidatin. Bettina Jarasch (Grüne) im Marienpark in Tempelhof.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Grünen-Spitzenkandidatin für Berlin-Wahl: Frau Jarasch, wollen Sie ernsthaft diese Stadt regieren?

Bettina Jarasch will Nachfolgerin von Michael Müller werden. Im Interview spricht sie über Reformen in Bildung und Verwaltung und den Glauben in ihre Partei.

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Frau Jarasch, wollen Sie ernsthaft diese Stadt regieren?

Na klar!

Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, erklären Sie es uns.

In dieser Zeit braucht es in Berlin jemanden, die in der Lage ist, sehr unterschiedliche Menschen zu einem gemeinsamen Ziel zusammenzuführen und Bündnisse für die Zukunft zu schmieden. Das gilt angesichts der Klima- und Coronakrise genauso wie vor dem Hintergrund der Verkehrswende oder der Frage bezahlbarer Mieten. Wir brauchen eine neue Verbindung von Veränderung und Zusammenhalt, damit das wachsende Berlin eine weltoffene Stadt bleibt. Die gesellschaftlichen Spaltungen dürfen nicht noch verschärft werden.

Mit Verlaub, die meisten mussten Ihren Namen erst mal googlen. Wie wollen Sie dem entgegenwirken?

Seit zwei Jahren stehen wir Bündnisgrünen in den Umfragen vorne. Das zeigt, dass die Berliner uns vertrauen und schon jetzt Führungsverantwortung übertragen. Sie wissen, dass wir echte Lösungen anzubieten haben. Ich setze auf die Neugier der Berliner und habe wie alle Kandidaten nun ein Jahr lang Zeit, um zu zeigen, was ich als Regierende Bürgermeisterin umsetzen will.

Es gab zwei profilierte Frauen, Ramona Pop und Antje Kapek, die es hätten machen können. Sollte nicht die beste Politikerin für das Spitzenamt nominiert werden?

Frau Pop und Frau Kapek sowie die gesamte Führungsspitze waren der Meinung, dass ich die beste Kandidatin bin. Ich kann Bündnisse schmieden und ich kann führen – das sind meine Stärken. Führen ist etwas anderes als Verwaltungserfahrung zu haben. Zudem ist man im Amt der Regierenden Bürgermeisterin ja nicht allein unterwegs, sondern hat Fachleute um sich. Führen bedeutet, ein Ziel zu haben und Menschen davon zu überzeugen. Im besten Fall kann man die Menschen dann so dafür begeistern, dass sie dieses Ziel gemeinsam verfolgen.

Was macht Sie so sicher, dass Sie das hinkriegen?

In den sechs Jahren als Parteichefin habe ich einen damals zerstrittenen Landesverband geeint, und zwar im Team, und dann erfolgreich in diese Regierung geführt. Ich bin Generalistin, kann mich schnell einarbeiten und gelte in meiner Fraktion als notorische Einmischerin. Das mag den einen oder anderen in den letzten Jahren genervt haben. Jetzt habe ich die Lizenz dafür.

Aber gerade Verwaltungserfahrung kann man nicht so schnell aufholen. Und fünf Jahre einer Legislatur gehen schnell vorbei.

Es gibt Politiker, die mit viel Verwaltungserfahrung in Spitzenämter gekommen sind und es trotzdem nicht geschafft haben, eine Regierung gut zu führen. Ich möchte als Regierende Bürgermeisterin auch ein Aufbruchssignal in die eigene Verwaltung senden, dass ich mich gerne mit den Mitarbeitern gemeinsam auf den Weg machen möchte. Diese Signale gab es nicht bei jeder Amtsübernahme.

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Auch bei den Grünen gibt es Beispiele von Senatorinnen, die es nicht geschafft haben, sich mit Experten zu umgeben, etwa um gerichtsfeste Gesetze zu schreiben – Beispiel Pop-up-Radwege.

Die Verwaltung von Verkehrssenatorin Günther war durchaus in der Lage, Pop-up-Radwege umzusetzen. Sie dürfen jetzt bleiben

… vorerst. Das endgültige Urteil steht aus.

Das Haus von Frau Günther wurde nach der Bildung von Rot-Rot-Grün neu zusammengestellt und massiv umgesteuert. Die Verkehrsverwaltung hatte jahrzehntelang für eine autogerechte Stadt gearbeitet. Jetzt sollen dieselben Menschen die Verkehrswende umsetzen. So etwas braucht einfach Zeit.

Bettina Jarasch war bis 2016 Berliner Landesvorsitzende der Grünen und bis 2018 Mitglied im Bundesvorstand.
Bettina Jarasch war bis 2016 Berliner Landesvorsitzende der Grünen und bis 2018 Mitglied im Bundesvorstand.

© imago images/Reiner Zensen

Wie wollen Sie den Wählerinnen und Wählern erklären, dass auf diesem Gebiet – dem Kernthema der Grünen – so wenig passiert ist in den vergangenen vier Jahren?

Wir haben im vergangenen Wahlkampf noch darüber gestritten, dass die A 100 mitten durch die Stadt geführt werden soll. Eine Autobahn! Jetzt streiten wir über Pop-up-Radwege. Da ist schon ein gewaltiger Kulturwandel passiert. Wir müssen den Fokus auf die schlecht angebundenen Stadtrandlagen legen. Ich sage das bewusst, denn es gibt auch in den Außenbezirken Gebiete, die gut angebunden sind. Und auch dort gibt es viele Menschen, die sich eine moderne Mobilität ohne eigenes Auto wünschen. Außenlage versus Innenstadt, das ist ein verzerrtes Bild.

Die Verkehrsverwaltung schlägt sich aber vor allem mit den Bezirken herum, es ist nicht einfach, diese Dinge umzusetzen. Wie wollen Sie den Prozess beschleunigen?

Wir müssen die Zuständigkeiten neu aufteilen – etwa die für Haupt- und Nebenstraßen. Bislang braucht es bis zu 18 Verwaltungsschritte, um auch nur einen Zebra- oder Radstreifen auf die Straße zu bringen.

Die Bezirke spielen dann gern das Pingpong der Unzuständigkeit mit dem Senat, haben Sie dafür eine Lösung?

Um die Verwaltung gut aufzustellen, müssen alle kooperativer werden und das starre Ressortdenken überwinden: Zwischen den Senatsverwaltungen, aber auch zwischen dem Land und den Bezirken. Unter anderem die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann hat ja gerade in dieser Zeitung interessante Vorschläge für eine Verwaltungsreform gemacht. Ich kann mir beispielsweise ein Vetorecht des Rats der Bürgermeister vorstellen, um eine Augenhöhe zwischen Bezirks- und Landesverwaltung zu schaffen, die konstruktiv genutzt werden kann.

Würde das nicht zu noch mehr Blockade führen?

Schlimmer als momentan kann es doch gar nicht werden. Es könnte im Gegenteil dazu führen, dass Bezirke früher eingebunden werden, weil man weiß, dass sie im Zweifel alles blockieren können. Aber die dringend nötige Verwaltungsreform sollten wir aus dem Wahlkampf heraushalten, zumindest wenn es um eine Verfassungsänderung geht, sonst gibt es dafür nie die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit.

Also gut, welche Themen wollen Sie denn dann noch setzen?

Die große soziale Frage in Berlin ist bezahlbarer Wohnraum. Immer mehr Menschen müssen einen steigenden Teil ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Durch die Coronakrise sind viele Existenzen gefährdet. Man wird das Ausmaß der Arbeitslosigkeit erst noch sehen. Deshalb wird es noch drängender, die Daseinsvorsorge zu sichern. Dazu zählt das Wohnen an erster Stelle.

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Eines der großen Projekte der aktuellen Regierung ist der Mietendeckel: von der SPD erarbeitet und von den Linken umgesetzt. Die Grünen haben sich da sehr zurückgehalten.

Es ist genau andersherum: Die Grünen waren die Treiber, obwohl sie keine Ressortzuständigkeit hatten. Ich hoffe sehr, dass der Mietendeckel juristisch Bestand hat. Er kommt 1,5 Millionen Menschen zugute. Aber auch das ist ja nur eine Atempause. Wir brauchen auch nach der fünfjährigen Dauer des Mietendeckels eine Mietpreisbindung. Das Mietkataster, das der neue Stadtentwicklungssenator nun erarbeiten will, ist auch eine grüne Idee: Es ist wichtig, um überhaupt mal den Stand der Dinge zu kennen, um Vergleichsmieten zu bekommen.

Wie würden Sie das Thema Wohnen angehen?

Wir brauchen ökologischen Neubau. Und ich sage ganz klar: Das ist kein Luxusthema, sondern ein Ressourcenthema für mehr Klimaschutz. Ein Großteil des Berliner Wohnungsmarktes muss gemeinwohlorientiert sein nach dem Wiener Beispiel. Erst wenn mehr als 50 Prozent des Wohnraums gemeinwohlorientiert ist, kann man langfristig eine Mietenentwicklung beeinflussen. Ich beziehe die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften mit ein, die Genossenschaften, Stiftungen, Hausgemeinschaften, die ein Haus gemeinsam erwerben, und explizit auch alle privaten Vermieter, denen die soziale Mischung ihrer Mieter ein Anliegen ist.

Sollten die Grünen das Bauressort übernehmen?

Wir können uns sehr viele Ressorts vorstellen. Aber unsere Priorität ist erst einmal das Rote Rathaus.

Bettina Jarasch (Grüne) mit Raed Saleh (SPD) und Antje Kapek (Grüne) im Jahr 2016.
Bettina Jarasch (Grüne) mit Raed Saleh (SPD) und Antje Kapek (Grüne) im Jahr 2016.

© Imago

Bauen wollen Sie vor allem Brücken, haben Sie in den vergangenen Tagen häufig betont. Was soll das denn heißen? Es gibt ja schon recht viele Brücken in Berlin.

Brückenbauerin ist vielleicht ein etwas altmodisches Wort. Für mich ist es eine erfolgreiche Methode, Politik zu machen. Sie hat mit einer Haltung und einem echten Interesse an Menschen zu tun. Ich denke nicht in Hierarchien, in oben und unten. Letzteres ist übrigens eine sehr männliche Vorstellung. Ich bin überzeugt, dass Führung über Kooperation und Augenhöhe am besten funktioniert. Das meine ich mit Brückenbauen und Bündnissen schmieden mit Zukunftskräften …

… noch so eine Worthülse. Werden Sie mal konkret: Was heißt das?

Ich meine damit auch Menschen jenseits unserer Wählergruppen. Menschen, die gemeinsame Ziele gestalten wollen ungeachtet der parteipolitischen Couleur, weil sie Veränderungen sehen wollen. Ich bin dafür bekannt, dass ich diese Menschen sammele. Dabei ist für mich nicht entscheidend, ob das grüne Wähler sind.

Also dürfen es auch gern Zukunftskräfte aus der CDU sein, zum Beispiel der frisch gekürte Spitzenkandidat Kai Wegner?

Es gibt viele Konservative, denen Grundwerte wie Humanität oder die Verantwortung für Arme und für die Bewahrung der Natur wichtig sind, mit denen wir gemeinsame Ziele erreichen können. Aber das sind Werte, die diese Berliner CDU nicht unbedingt bedient.

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Die Konservativen erleben vor allem wegen der Führungsstärke der Union im Bund während der Coronakrise gerade deutlichen Zulauf. Hat Berlin in der Krise alles richtig gemacht?

Niemand hat alles richtig gemacht. Aber Berlin hat sich bisher sehr wacker geschlagen. Die Exekutive musste Entscheidungen treffen, bevor sie überhaupt alle Informationen über das Covid-19-Virus hatte. Was ich sehr wichtig finde: Berlin hat frühzeitig bedacht, dass bei all den Maßnahmen Menschen- und Grundrechte eingeschränkt werden. Deshalb müssen solche Maßnahmen zeitlich befristet sein. Und ein interessantes Detail: Frauen scheinen in der Krise besser zu führen. Länderchefs, die zu diktatorischen Maßnahmen greifen, waren bislang nicht sehr erfolgreich. Viele Frauen hingegen schon: Beispiel Neuseeland, Beispiel Finnland – ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist.

Berlin wird ja von einem Mann regiert, liegt es daran, dass die Infektionszahlen gerade explodieren?

Wir alle waren froh über diesen Sommer. Vor allem die Eltern, die zuvor wochenlang ihre Kinder in kleinen Wohnungen betreuen mussten. Aber jeder ist jetzt aufgefordert verantwortlich zu handeln, um nicht die Freiheiten zu verspielen.

In Krisenzeiten ist vor allem wichtig, die Dinge gut zu erklären. Wie würden Sie das machen als Regierende Bürgermeisterin?

Ich würde erklären, dass es hier um unser aller Freiheit geht. Das setzt individuelle Verantwortung voraus. Wenn sich manche aber alle Freiheiten nehmen, gefährden sie die Bewegungsfreiheit von allen. Solidarität in der Gesellschaft bedeutet auf die Schwächsten zu achten und sie zu stützen. Das sind alte Menschen, aber auch Kinder. Es wäre falsch, jetzt wieder die Schulen zu schließen. Die Kinder dürfen nicht schon wieder aus ihrem Lernalltag gerissen werden. Wir brauchen kluge Mischmodelle aus Präsenzunterricht und digitalem Unterricht. Und die Beziehung zwischen Pädagogen und den Kindern darf nicht mehr abreißen, wie es in einigen Schulen der Fall war.

In der Bildungspolitik liegt vieles darnieder von Ausstattung bis Ausbildung der Lehrer. Die Expertenkommission hat Berlin gerade eben die Note 6 gegeben. Wie wollen Sie das alles besser machen?

Neben den Mieten ist Bildung die zentrale soziale Frage in dieser Stadt. Wo entstehen Zukunftschancen, wenn nicht in der Schule? Die Bildungsverwaltung hat allerdings in den letzten Jahren drei Riesenthemen verschlafen: den Mangel an Schulplätzen, an Lehrkräften und die Digitalisierung, was uns jetzt massiv auf die Füße fällt. Wir Bündnisgrünen fordern schon lange eine Qualitätsoffensive – gerade für die Grundschulen.

Solche Forderungen sind einfach, aber wie soll das konkret gehen, wenn die Lehrerausbildung zu langsam ist und die ausgebildeten Kräfte dann in andere Länder gehen, wo verbeamtet wird?

Wenn wir nicht genügend Lehrkräfte haben und das auch nicht so schnell auffüllen können, dann müssen wir multiprofessionelle Teams bilden. Wir entlasten die Lehrkräfte durch die vielen anderen Berufsgruppen, die auch pädagogisch-didaktisch arbeiten. Oder ihnen Verwaltungsarbeit abnehmen, die unglaublich viel Zeit in Anspruch nimmt. Lehrkräfte sollen sich wieder aufs Unterrichten konzentrieren können. 

Sie sind Katholikin, ist das mit grünen Werten vereinbar? Die katholische Kirche steht nicht gerade für Weltoffenheit und Diversität.

Das Entscheidende für mich ist die Orientierung an Menschenrechten und Menschenwürde. In dieser Hinsicht passt das Evangelium gut zur grünen Programmatik. Die katholische Kirche ist etwas ganz anderes: Ich gehöre zu denjenigen, die massiv Reformen einfordern. Das tue ich aber nicht nur als Grüne, sondern auch als katholische Frau. Das einzige, was in der katholischen Kirche helfen würde, wäre eine komplette Verweigerung von Frauen. Wenn die ehrenamtlichen Frauen ein Jahr lang ihre Arbeit einstellen würden, würde alles zusammenbrechen. Die katholische Kirche wird von Frauen getragen, aber von Männern regiert. Das muss sich dringend ändern.

Es sieht so aus, als würde zumindest Berlin ab dem nächsten Herbst von einer Frau regiert: Alle rechnen mit der Kandidatur von Familienministerin Franziska Giffey für die SPD. Ein Problem für Sie?

Ich freue mich auf das Duell. Und wenn überhaupt, ist es ein Problem für Frau Giffey! Bei uns Grünen passen Person, Programm und Partei zusammen.

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