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Berlin: Gisela Wirths (Geb. 1949)

Sie will Politik machen, nicht Karriere

Als sie zwei Jahre alt ist, muss sie ins Krankenhaus, zwei Jahre lang, bis sie vier ist. Ein angeborener Hüftschaden soll korrigiert werden, sie liegt fast immer im Bett. Für die meisten Kinder ein Horror. Sie aber erinnert sich später an helle Räume, Bäume vorm Haus und nette Krankenschwestern. Das Beste ist, wenn die Schwestern sie bei schönem Wetter auf die Terrasse mit Blick auf den Rhein schieben.

Wahrscheinlich kann sie die Zeit vor allem deshalb genießen, weil sie nicht zu Hause sein muss. Dort, im Bergischen Land, wo ein harter Mann wohnt, der ihr Vater ist. Seinen rechten Arm hat im Krieg eine Granate zerfetzt. Er kann nicht mit Messer und Gabel essen, Tochter und Ehefrau dürfen es ebenfalls nicht. Gegessen wird mit einer Hand.

Dann kommt sie in die Schule. Bringt sie eine Zwei nach Hause, bestraft sie der Vater. Dass sie Krankenschwester wird, enttäuscht ihn schwer. Wenigstens Medizin hätte sie studieren sollen. Oder einen Arzt heiraten, davon wimmelt es doch in den Krankenhäusern! Stattdessen bringt sie Manfred nach Hause, einen Bauarbeiter.

Manfred ist ihr aufgefallen, weil er einen Freund, der monatelang im Krankenhaus lag, auch dann noch besuchte, als die anderen Besucher ausblieben. Der könnte treu sein, mag sie sich gedacht haben. Außerdem trägt er die Haare lang, und Blue Jeans hat er an. „Der Beatle“, so nennen ihn seine Freunde. Der könnte wild und frei sein. Vielleicht ist das der Richtige.

Gisela ist 18, Manfred 21, als sich René ankündigt. 43 Jahre später sitzt René in seiner Wohnung im Bergmannkiez und sagt: „Ich war zwar ein Wunschkind. Es ist aber auch so: Wäre ich nicht gekommen, hätten meine Großeltern der Hochzeit nie zugestimmt. Die Schwangerschaft war Rechtfertigung und Begründung für die beiden, zu heiraten. Durch mich haben sie Fakten geschaffen. Es war die einzige Möglichkeit, der Beziehung die elterliche Billigung abzuringen.“ Ein Jahr später kommt sein Bruder Karsten zur Welt.

Sie ziehen ins Haus von Giselas Schwiegereltern, nach Waldbröl im Bergischen Land. Dorthin, wo der größte Viehmarkt Nordrhein-Westfalens stattfindet und wo man seinerzeit stolz war, dass Hitler die Gegend dreimal besucht hat. Giselas Schwiegereltern wohnen ein Stockwerk unter ihnen. Der Schwiegervater ist seinen Enkeln ein herzensguter Opa, gütig, geduldig und liebevoll. Im Krieg war er bei der SS, in Auschwitz hat er seinen Dienst versehen. Dort hat er seine Frau getroffen, eine Polin, im Ort als „Polackin“ geächtet. Deutsch spricht sie mit kantigem Akzent, Polnisch flucht sie fließend. Noch Jahrzehnte später kann Gisela diese Flüche auswendig, ohne genau zu wissen, was sie bedeuten.

Gisela und Manfred hält in Waldbröl nichts. Aber wohin? Nach Köln? Zu nah. Berlin soll es sein. Gisela arbeitet als Krankenschwester im Wilmersdorfer Sankt-Gertrauden-Krankenhaus, Manfred muss nicht zum Bund und arbeitet auf dem Bau.

Und er trinkt. „Auf dem Land, wo er herkam, war das nicht so aufgefallen“, sagt René, „dort soffen sowieso alle. Außerdem hatte man als Mann bis Anfang 20 Narrenfreiheit, man durfte sich austoben und wurde dann hoffentlich vernünftig.“ Manfred nicht. Wenn er abends heimkommt von Bau und Kneipe, hat er 30 Bier intus. Herzlich ist er dann und ausgelassen.

Ohne Bier ist er unausstehlich. Einmal weckt er René nachts um drei und klagt, wie schwer sein Leben sei. Ungefähr acht Jahre alt ist sein Sohn da. „Erst auf dem Gymnasium merkte ich, dass so etwas nicht üblich war.“ Er sitzt auf seiner Couch, schließt die Füße zum Schneidersitz und sagt: „Er war eigentlich lange Zeit nicht gewalttätig.“

Gisela und Manfred geben Partys, spielen Gitarre und singen Stones- und Udo-Lindenberg-Songs. Und der Alkohol lässt Manfred nicht mehr los.

1973 nehmen die Wirths drei Pflegekinder zu sich. Eines davon ist schon 16 und zeigt Manfred acht Jahre später, was noch viel stärker ist als ein Herrengedeck: Heroin.

Weihnachten 1980: Manfred sitzt betrunken im Wohnzimmer, Gisela geht mit den Kindern Pizza essen. „Die Frage war nicht: Kriegen wir ihn wieder hin? Sondern: Geht er allein auf den Abgrund zu oder nimmt er uns mit?“

Im Sommer packen Mutter und Söhne die Koffer und ziehen erst zu einer Freundin, dann in ein Schwesternwohnheim. Manfred fällt das gar nicht auf, er denkt, Gisela würde arbeiten. Dass die Söhne Ferien haben, muss ihm Gisela am Telefon erklären. Der Mann, den sie noch immer liebt, stirbt ein Dreivierteljahr später. Er ist 34. Ein Dutzend Leute kommen zur Beerdigung. Gisela steht am Grab, überfordert, erleichtert, verzweifelt und voll von Schuldgefühl. Einen anderen Mann fürs Leben wird sie nicht mehr finden.

Ihre zwei Jungs sind mit der Pubertät beschäftigt. Sie experimentieren mit Alkohol. Gisela macht sich Sorgen, Vorwürfe macht sie ihren Kindern aber nicht. Sie hat Ertragen gelernt. Und noch etwas: Kämpfen. Zu dritt gehen sie einmal in der Woche zum Familientherapeuten. „Mein Bruder und ich kamen auch deshalb mit, weil im Vorraum ein Kicker stand.“ Gisela richtet es so ein, dass sie immer 20 Minuten vor dem Termin da sind.

Woher nimmt sie neben alldem nur die Kraft für die Politik? Eine Frage, die sie wohl nie gestellt hätte. Vielleicht ist die Politik ihr Ausgleich, eine Sache, die nichts mit ihrer Familie zu tun hat. Vielleicht auch Mittel gegen das Einsamsein und Quelle von Anerkennung. Vielleicht kann sie auch einfach mit der Idee vom „zur Ruhe kommen“ nichts anfangen. Wer sagt denn, dass man sich seine Kräfte einteilen kann? Wahrscheinlich ist ihr so etwas wie Kraft auch egal: Sie will einfach wirken.

Politik bedeutet für sie vor allem eins: Menschen helfen. Politik beginnt damit, als Stationsschwester das Verhältnis zwischen Patienten, Schwestern und Ärzten zu verbessern, und Politik endet nicht damit, Betriebsratsvorsitzende im Rittberg-Krankenhaus zu sein. Dort gründet Gisela eine Friedensgruppe, engagiert sich bei den „Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs“. Sie verteilt Handzettel auf Märkten, demonstriert gegen den Nato-Doppelbeschluss, ruft zu Demonstrationen auf. Ihre Söhne nimmt sie mit, ruft: „Solidarisieren – mitmarschieren!“, sie hält Fahnen und Transparente hoch.

Warum sollte sie Nein sagen, als Leute von der Alternativen Liste sie fragen, ob sie für das Berliner Abgeordnetenhaus kandidieren will? 1988 zieht sie ein. Und setzt sich unter anderem fürs erste Berliner „Weglaufhaus“ ein. Ein Ort für Frauen, die Gewalt erfahren haben.

Sie lernt, wie man Reden schreibt und wie man Reden hält. Sie arbeitet 16 Stunden am Tag. Sie raucht und ignoriert ihre Schmerzen in der Hüfte. Zum 40. Geburtstag ist Renate Künast eingeladen, sie spielt Gitarre und singt Beatles- und Arbeiterlieder. Zu Hause schmeißen noch bis 1990 die Söhne den Haushalt. Es ist eine Art Familien-WG.

Für die Alternative Liste ist sie gesundheits- und sozialpolitische Sprecherin. 1990 aber will sie nicht mehr zur Wahl antreten. Sie gibt alle politischen Ämter ab. Ihre Partei ist ihr zu „realpolitisch“ geworden, das liberale Bürgertum hat die Farbe Grün als das neue Gelb entdeckt. Die Sozialpolitik kam ihr zu kurz. Leute wie sie, grüne Linke, hießen „Fundis“. „Vor hundert Jahren wäre sie eine Sozialdemokratin gewesen“, sagt René. Später, als Fischer und Schröder Soldaten in den Kosovo schickten, verließ Gisela Wirths die Grünen.

Sie arbeitet noch in der Aus- und Fortbildung von Krankenschwestern und Krankenpflegern. Und sie entdeckt ihre Liebe zu Italien und zu den Italienern: Wie die reden, gestikulieren, sich aufregen! Dreimal im Jahr fährt sie nach Ischia, in den letzten Jahren mit Hund Coco in der Reisetasche. Natürlich nimmt sie auch ihre Enkelin Clara mit.

Dann der Kehlkopfkrebs. Operationen, Bestrahlung, Chemotherapie. Spröde Finger, trockener Mund, zerbröselnde Zähne. Lungenmetastasen. Sie kann nicht mehr singen, aber sie singt. Sie hat kaum noch Luft, aber sie tanzt. Hundert Leute feiern mit ihr ihren 60. Geburtstag, die Letzten gehen um fünf in der Früh.

Ihr Sohn René ist Maler, bis drei Monate vor ihrem Tod hat sie für ihn Modell gesessen. Es entsteht ein Porträt im Profil, 1,65 mal 1,30 Meter groß. Es ist ungeschönt – und es ist eine Huldigung. Die kleinsten Hautflecken sind erkennbar, Haarspitzen und Augenfalten, aber es ist nicht die Detailtreue, die das Bild so realistisch macht. Sein Realismus steckt irgendwo dazwischen, irgendwo darin. In ihrer erschöpften, wachen Art. Sie schaut nach vorn und sucht dort nichts mehr. Andreas Unger

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