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Berlin: Gisela Wilcke (Geb. 1915)

Sie seufzt den Flugzeugen nach: „So was werden wir uns nie leisten können“

Von David Ensikat

Selbst ist der Mann. Und was ist die Frau? Gisela Wilcke war zunächst einmal für die anderen da, für ihre Schwester, ihren Mann, ihre Kinder. Ein bürgerliches Frauenleben, das im Kaiserreich begann und beinahe hundert Jahre währte, lange genug, um schließlich noch mehr zu sein als ein dienendes, der Familie verschriebenes.

Ihr Elternhaus war gutbürgerlich, aber die Zeit war weit genug fortgeschritten, dass eine Tochter ihres Standes die Jahre bis zur Ehe in Ausbildung und Beruf verbrachte: höhere Handelsschule, Banklehre, Bankkauffrau. 1941 die Heirat, ihr Mann überlebt den Krieg, der erste Sohn kommt 1945 zur Welt, der Mann schafft das Geld heran, Gisela Wilcke die Lebensmittel. Sie hütet das Haus und die Kinder, sowie ihre ältere Schwester mit Down-Syndrom. Die Zeiten sind hart, die Mittel knapp, die Träume bescheiden. Manchmal besuchen die Wilckes eine Tante in Tempelhof. Dann gehen sie zum Flughafen und gucken durch den Zaun den Flugzeugen nach, die die Leute von der Insel West-Berlin davontragen. „So was werden wir uns nie leisten können“, seufzt Gisela Wilcke.

Mitte der sechziger Jahre, sie ist fast fünfzig: ein erster Wendepunkt zu einem Leben, das man als selbstbestimmt bezeichnen kann. Zwei ihrer Kinder sind aus dem Haus, das dritte alt genug, nicht mehr behütet werden zu müssen. Ihre Schwester kommt in ein Pflegeheim. Und Gisela Wilcke beginnt noch einmal zu arbeiten, als Stenotypistin und Sekretärin. So bescheiden wie bisher muss das Leben ja nicht bleiben, wer arbeitet, der kann sich etwas leisten. Die Wilckes kaufen sich ihr erstes Auto, einen Renault Dauphine mit vier Türen und Schiebedach. Gisela Wilcke macht den Führerschein und erzählt Jahrzehnte später noch, wie sie ihren Fahrlehrer, Herrn Riedel, verblüffte: Auf einmal fuhr sie 70 in der Stadt, auf einer Straße, wo das seit kurzem erlaubt war, wovon Herr Riedel keine Ahnung hatte.

Die 15 Jahre bis zur Rente arbeitet sie gern; sie weiß ja wofür. Gemeinsam mit ihrem Mann geht sie auf Reisen, 1976 in die USA, ein günstiges Angebot, das ihr eine Freundin vermittelt, dann die Kreuzfahrten. Da schlafen sie zwar in Innenkabinen, und ihr schickes Kleid hat Gisela Wilcke selbst genäht – aber bei den Captain’s Dinners sind sie stolz dabei.

Der zweite Wendepunkt in ihrem Leben ist zunächst ein trauriger: Sie pflegt drei Jahre lang ihren Mann, 1988 stirbt er. Sie ist jetzt 73, eine ältere Dame mit weißem Haar, die gar nicht daran denkt, dass auch ihr Leben einem Ende entgegengehen soll. Sie schließt sich einem Tanzklub an, besucht einen Französisch-Kurs und fährt jedes Jahr nach Teplice in Tschechien. Ein paar Mal ist sie dort auf Kur, die anderen Male einfach so, weil sie dort so schön Fasching feiern. Sie ist ehrgeizig, den Wettbewerb um das schönste Kostüm gewinnt sie nicht nur ein Mal. Für die Fotos posiert sie als Micky Maus, als Rübezahl und einmal als Kellnerin mit knappem Röckchen um die Hüfte und Bunny-Ohren auf dem Kopf.

Zu ihrem 83. Geburtstag wünscht sie sich eine Fahrt mit dem Fesselballon; mit Flugzeugen ist sie inzwischen oft genug geflogen. Ihr Sohn zögert: Ist das nicht ein bisschen gewagt in ihrem Alter? Der Ballonkorb könnte schaukeln, die Landung könnte hart sein. Also bucht sie den Flug eben selbst und präsentiert ihren Kindern und Enkelkindern stolz die Fotos: Da guckt ihr, was!

Ein paar der Bilder finden sich im Fotoalbum, das ihr Sohn zusammengestellt und ihr zum 96. Geburtstag geschenkt hat: Ein langes Frauenleben, anfangs in Schwarz-Weiß und dann in Farbe: sie als braves Töchterlein mit Eltern und Großeltern, sie als Braut, dann mit Familie beim Musizieren vorm Weihnachtsbaum, auf dem Ausflug mit Mietwagen, dann der Renault Dauphine, im Winterurlaub in leuchtenden Ski-Anzügen, auf dem Chrysler-Building in New-York, auf Kreuzfahrt in Spitzbergen, in allerlei Verkleidungen in Teplice. Sie hat sich sehr gefreut über das Album, so viele schöne Erinnerungen. Nur etwas, sagte sie, fehle darin: „Ich hab’ doch auch gearbeitet.“ David Ensikat

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