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Staubiges Archiv. Werkstattleiter Stefan Kramer ist Herr über 7000 Formen, deren Originale zum Teil zerstört sind.

© Mike Wolff

Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin: „Wir sind ein Gedächtnis für die Stadt“

Die Gipsformerei in Charlottenburg wird 200 Jahre alt, sie spiegelt Berliner und deutsche Geschichte. Ein Werkstattbesuch vor dem Tag der offenen Tür.

Eigentlich gibt es diesen Ort gar nicht. Kein Museum könnte zum Beispiel die Statue der Nofretete und den monumentalen Pergamonfries gemeinsam unter einem Dach ausstellen. Zugegeben, es geht um Abgüsse aus Gips. Aber die sind so detailgetreu nachgebildet, dass sich durchaus ein bemerkenswertes Gefühl einstellt: So etwas gibt es nur in der Gipsformerei der Staatlichen Museen in der Sophie-Charlotte-Straße.

Überstrahlt von Glanz und Pracht des Schlosses Charlottenburg findet man das denkmalgeschützte Backsteingebäude von 1891 etwas versteckt einige hundert Meter weiter den Spandauer Damm hinunter Richtung Autobahn. Was vielleicht auch ganz gut die Position dieser wahrscheinlich unbekanntesten Einrichtung der Staatlichen Museen symbolisiert, die allerdings zugleich ihre älteste ist: 1819 hat sie Christian Daniel Rauch, der wohl wichtigste Berliner Bildhauer des 19. Jahrhunderts, in seiner Werkstatt gegründet.

Richtig gerechnet: Dieses Jahr steht das 200. Jubiläum an. Und das feiert die Gipsformerei nicht nur seit September mit der Ausstellung „Nah am Leben“ in der James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel, sondern auch am Sonntag mit einem Tag der Offenen Tür, inklusive Rundgängen und Workshops.

Im 19. Jahrhundert wurde schon am Ausgrabungsort abgeformt

Aber wozu braucht es überhaupt aufwändige Gipsabformungen von Kunstwerken, wenn es die Originale gibt? Werkstattleiter Stefan Kramer freut sich fast über die Frage. Die Gipsformerei, erzählt der 48-Jährige, wurde auf Anordnung von Friedrich Wilhelm III. gegründet. Der König habe damit zugleich repräsentieren, Geld verdienen und der Berliner Bevölkerung den Anblick großer Kunst bieten wollen, wenn auch nur als Abguss. „Das älteste Berliner Museum, das Alte Museum auf der Museumsinsel, wurde 1825 gegründet und war anfangs komplett mit Gipsabformungen bestückt“, erzählt Kramer. Originale seien dort erst später zu sehen gewesen.

25 Mitarbeiter beschäftigt die älteste Einrichtung der Staatlichen Museen. Die Nachwuchssuche ist schwierig.
25 Mitarbeiter beschäftigt die älteste Einrichtung der Staatlichen Museen. Die Nachwuchssuche ist schwierig.

© Mike Wolff

Aber auch der dokumentarische Gedanke zählte bei der Gründung der Gipsformerei. Das 19. Jahrhundert gab sich einem regelrechten archäologischen Ausgrabungsfieber hin, das natürlich auch nationalistisch durchwebt war. Fundstücke wurden entweder sofort am Grabungsort oder später in Berlin abgeformt. Heute zählen Akademien und Kunstmuseen in aller Welt, aber auch Künstler und Privatpersonen zu den Kunden der Gipsformerei. Sie ist eine Institution, die es so nur einmal in Deutschland gibt.

Die Abgüsse entstehen in mehreren Schritten

Anhand von Modellen auf einem Tischchen erläutert Stefan Kramer, wie ein Gipsabguss entsteht. Die Methode hat sich, auch wenn heute vereinzelt 3D-Scans zum Einsatz kommen (siehe Kasten), über Jahrhunderte kaum verändert, das Handwerk ist immer noch sehr traditionell. Erst muss eine Kappe aus Ton um das Original hergestellt werden – Kramer spricht lieber von „Vorlagen“, da Originale in manchen Fällen gar nicht mehr existieren.

In sie wird eine dickflüssige, pastöse Masse aus Leim oder, moderner, Silikon gegossen, die die „Form“ bildet, mit der später der eigentliche Abguss angefertigt wird. Diese Formen können selbst von unschätzbarem Wert sein.

Ein Beispiel: Nachdem Carl Humann das Pergamonfries in der heutigen Türkei ausgegraben hatte, wurde sofort und noch vor Ort 1880 eine Form – beziehungsweise mehrere einzelne riesige Formen – abgenommen. Das wäre heute undenkbar, es wäre nicht mehr erlaubt. Die in der Gipsformerei gelagerten riesenhaften Formen des Pergamonfrieses sind die einzigen, die weltweit existieren. Gerade erst hat eine chinesische Kunstakademie Abgüsse davon bestellt.

Die Methode des Gipsformens hat sich über Jahrhunderte kaum verändert, das Handwerk ist immer noch sehr traditionell.
Die Methode des Gipsformens hat sich über Jahrhunderte kaum verändert, das Handwerk ist immer noch sehr traditionell.

© Mike Wolff

Kopien von Kunstwerken lagern hier - und dunkle Zeugnisse deutscher Geschichte

Beim Gang durch die Etagen der Gipsformerei ist man nie allein: überall grinsende, nüchtern oder ernst blickende Abgüsse von Kaisern, Königen, Fürsten, Göttern, ganz gewöhnlichen Menschen, von Tieren, von modernen Skulpturen Auguste Rodins oder Marcel Duchamps.

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Rund 7000 Objekte lagern hier. Auch Gesichter von Menschen, die in den einstigen deutschen Kolonien in Afrika lebten wurden abgeformt – eine rassistische Praxis, heute undenkbar. Deshalb werden diese Abgüsse in der Ausstellung auf der Museumsinsel nicht gezeigt, nur eine Form ist zu sehen: Sie wurde von einem Mann namens N’Kurui nachweislich gegen seinen Willen genommen und markiert eine Leerstelle, über die man viel nachdenken kann.

Ein Archiv aus Gips

Die Gipsformerei spiegelt damit auch preußische und deutsche Geschichte, ist sogar unversehrt durch den Zweiten Weltkrieg gekommen. Ein Glück, denn hier lagern rund 500 Abgüsse von Kunstwerken, deren Originale beschädigt oder zerstört wurden. „Wir sind damit auch ein wichtiges Archiv, ein Gedächtnis für die Stadt“, sagt Kramer und zeigt auf eine Madonna von Andrea della Robbia, die 1945 im Bode-Museum zerstört wurde. Deren originale Farbgebung ist mit dem Abguss bewahrt, was nicht unwichtig ist bei Kunstwerken, die verloren gingen, bevor die Farbfotografie breitenwirksam aufkam.

Auch die Quadriga vom Brandenburger Tor basiert auf einer sogenannten Schutzabformung der Gipsformerei, die die Nazis 1944 nehmen ließen. Damit hat die Berliner Bildgießerei Noack die heutige, aus Kupferblech getriebene, innen hohle Skulptur hergestellt. Vom im Krieg zerstörten Original existiert nur noch der Kopf, der im Märkischen Museum lagert.

Wer will heute noch "Gipskunstformer" werden?

In der warmen, staubigen Werkstatt arbeiten heute 25 Menschen, darunter drei Maler, ein Schlosser, ein Packer, manche schon seit Jahrzehnten. „Wir haben eine sehr geringe Fluktuation, das Arbeitsgebiet ist schon sehr speziell“, erzählt Stefan Kramer. Deshalb sei auch die Nachwuchssuche schwierig. Fast alle in der Werkstatt sind Stuckateure, offiziell „Gipskunstformer“.

Kramer hat hier 1998 angefangen, seit 2014 ist er Werkstattleiter und, das hört man, Ur-Berliner. „In vierter Generation“, bestätigt er. So erzählt die Gipsformerei nicht nur mit ihrer Sammlung, sondern auch mit den Biografien ihrer Mitarbeiter ein schönes Stück Berliner Geschichte.

Tag der offenen Tür in der Gipsformerei am Sonntag, 8. Dezember, 11-16 Uhr. Freier Eintritt. Sophie-Charlotte-Straße 17/18. Mehr Infos hier.

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