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Einschulungsuntersuchungen durch die Gesundheitsämter sind obligatorisch - und fallen in Berlin dennoch aus.

© Arne Dedert/dpa

Gesundheitsämter überlastet: Bis zu 10.000 Erstklässler in Berlin ohne Schuluntersuchungen

Erstmals seit Jahrzehnten fallen die Untersuchungen vor der Einschulung aus. Auch Hygienekontrollen finden nicht statt. Die Gesundheitsämter sind überlastet.

Tausende Kinder in Berlin werden diesen Sommer eingeschult, ohne amtsärztlich untersucht worden zu sein. Dass die obligatorischen Einschulungsuntersuchungen in Berlin ausfallen, ist seit Jahrzehnten das erste Mal. In den zuständigen Gesundheitsämtern herrscht Personalnot, die Mitarbeiter sind in der Pandemie voll mit dem Infektionsschutz befasst. 

Nach Tagesspiegel-Informationen sind bis zu 10.000 der circa 30.000 Jungen und Mädchen betroffen, die ab August in die erste Klasse kommen sollen.

Bei den obligatorischen Einschulungsuntersuchungen prüfen die bezirklichen Gesundheitsdienste sprachliche Fähigkeiten, Motorik, Sehen, Hören sowie Zähne, Größe und Gewicht der Kinder. Danach entscheidet sich, ob ein Kind schulreif ist, ob und welcher Förderbedarf besteht. 

Es handelt sich um die einzige derart umfangreiche Reihenuntersuchung, die für alle Menschen in Deutschland verpflichtend ist – die Daten sind deshalb auch für Forscher relevant.

Öffentlich bekannt war, dass die Tests ausgesetzt sind; üblicherweise sollten sie bis April durchgeführt worden sein. Nun steht fest, dass sie absehbar nicht nachgeholt werden. 

Eindämmen der Coronavirus-Pandemie hat Priorität

Auf Anfrage der Abgeordneten Catherina Pieroth (Grüne) schreibt Gesundheitsstaatssekretärin Barbara König (SPD), wegen „der Einbindung der Beschäftigten des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes der Bezirke in die Bewältigung der Corona-Pandemie wurden die Einschulungsuntersuchungen eingestellt. Offen gebliebene Einschulungsuntersuchungen können voraussichtlich bis Ende des laufenden Schuljahres nicht mehr durchgeführt werden.“

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Wie viele der angehenden Erstklässler noch vor dem Lockdown untersucht worden sind, variiert von Bezirk zu Bezirk. Reinickendorfs Amtsarzt Patrick Larscheid sagte, die Personalnot habe diese Entscheidung erzwungen – auch wenn er und seine Kollegen das bedauerten. Priorität habe das Eindämmen der Pandemie. 

Mitarbeiter der Bezirke und des Senats wiesen darauf hin, dass gerade der aktuelle Jahrgang einzuschulender Kinder die Untersuchungen – vor allem wegen der Sprachtest – brauche: So viele Kinder wie wohl nie zu vor, kämen aus Familien, die erst kürzlich eingewandert seien.

Czaja: Untersuchungen für „guten Schulstart fundamental“

Der CDU-Bildungsexperte und frühere Gesundheitssenator Mario Czaja hatte angeregt, Ärzte aus der Covid-19-Notklinik für die Schuleingangsuntersuchungen einzusetzen. Für Dienste in dem bislang ungenutzten Reservekrankenhaus an der Messe hatten sich zahlreiche Mediziner aus Rente, Weiterbildung und Teilzeit gemeldet. 

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Auf Nachfrage sagte Czaja, die Untersuchungen seien für einen „guten Schulstart fundamental“, niemand dürfe sich mit deren Absage zufrieden geben. Auch die Grünen-Gesundheitspolitikerin Pieroth sagte, im Notfall müssten geeignete Ärzte aus der leeren Covid-19-Klinik helfen.

Schon vor der Pandemie waren bestimmte Aufgaben für die Amtsärzte kaum zu schaffen. Die rot-rot-grüne Koalition hatte sich deshalb zum Ziel gesetzt, den öffentlichen Gesundheitsdienst der Stadt auf insgesamt 2000 besetzte Stellen auszubauen. Dazu fehlen bislang 500 Fachkräfte, darunter Pädagogen, Übersetzer, Ärzte.

Rattenbekämpfung in der Coronakrise eingeschränkt

Die Personallage in den Gesundheitsämtern ist verschieden schlecht – in allen Bezirken aber wurden in der Coronakrise zahlreiche Aufgaben ausgesetzt. Dazu gehören die Rattenbekämpfung, Hygienekontrollen in öffentlichen Einrichtungen und Beratungen für Menschen mit Behinderungen. 

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So meldet Charlottenburg-Wilmersdorf an den Senat, dass kaum Kita-Reihenuntersuchungen stattfinden, in Lichtenberg sind die Mitarbeiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes „überwiegend bis ausschließlich im Containment“ tätig, führen also Coronatests durch, überwachen die Quarantäne und suchen Kontaktpersonen von Infizierten. Begehungen nach der Hygieneverordnung „finden derzeit nicht statt“.

Aus Marzahn-Hellersdorf heißt es, man führe keine „Therapien im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst“ durch, auch Reinickendorf meldet: „keine Therapie an Schulen“. Spandau teilt laut Staatssekretärin König mit: „infektionshygienische Begehungen“ finden nicht statt, sichergestellt aber sei der Kinderschutz.

Eine Medizinstudentin in einem Berliner Testzelt entnimmt Blut. So sollen Antikörper gegen das Coronavirus nachgewiesen werden.
Eine Medizinstudentin in einem Berliner Testzelt entnimmt Blut. So sollen Antikörper gegen das Coronavirus nachgewiesen werden.

© Kay Nietfeld/dpa

Es gelte den in der Coronakrise vielerorts geübten Pragmatismus zur Regel zu machen, sagte Abgeordnete Pieroth angesichts der Personalnot. So würden heute schon Studenten bei der Nachverfolgung von Infizierten-Kontakten eingesetzt. 

Auch für die Covid-19-Notklinik an der Messe seien in wenigen Wochen zahlreiche Fachleute gewonnen worden – Studierenden könnten in den Gesundheitsämtern eine konkrete Perspektive geboten werden.

Der Senat hatte kürzlich durchgesetzt, dass die Ämter außertarifliche Zulagen zahlen können, um Fachkräfte für bestimmte Posten zu gewinnen. Anderenfalls erhalten Ärzte in Kliniken bis zu 1500 Euro Monatsbrutto mehr als ranggleiche Kollegen im öffentlichen Dienst. 

Trotzdem gibt es zu wenig geeignete Bewerber. Staatssekretärin König schreibt, zusammen mit Senatsfinanzverwaltung sei eine Werbekampagne für Posten im öffentlichen Gesundheitsdienst geplant, die aber „aufgrund der Pandemiesituation ausgesetzt“ sei.

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