zum Hauptinhalt
Gastarbeiter von einst. Schon im späten Kaiserreich holte sich die Berliner Industrie türkische Saisonkräfte. Foto: akg-images

© akg-images

Geschichte von Flucht und Migration: Gerettet in Berlin: Die vergangenen "Flüchtlingskrisen"

Mit Flucht und Einwanderung hat die Region Berlin-Brandenburg viele Erfahrungen. Das Buch "Neuberliner" zeichnet diese nach – mit Lehren für heute.

Endlich waren sie am Ziel ihrer Hoffnung. Flucht geschafft, neuer Lebensmut. Aber sie wurden keineswegs überall freundlich begrüßt. Sie galten als Fremdlinge, die ein „wüstes Leben“ führten, Ungeziefer einschleppten, ja, den gewohnten Berliner Alltag bedrohten. Den Mächtigen im Staate jedoch schien das egal zu sein. Die umstrittenen Neuankömmlinge würden von ihnen mit Samthandschuhen angefasst, regelrecht bevorzugt und bei Zuwendungen privilegiert, rügten Kritiker. War das nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit gegenüber der angestammten Bevölkerung?

Argwohn schlug vielen „Réfugiés“ entgegen, als sie nach dem Edikt von Potsdam des Großen Kurfürsten anno 1685 in Brandenburg-Preußen Asyl suchten. Rund 20.000 brutal verfolgte französische Protestanten zogen zwischen 1685 und 1713 in die Region. Bereits 1698 kam fast jeder vierte Einwohner der Doppelstadt Berlin-Cölln aus Frankreich.

Offiziell waren die Hugenotten zwar höchst willkommen, doch ihr Ansturm in Scharen löste in der Bevölkerung ähnliche Ängste aus wie die aktuelle Flüchtlingskrise. Alles schon mal da gewesen in Berlin und Brandenburg.

Es lassen sich Muster erkennen

„Natürlich ist jedes geschichtliche Ereignis einzigartig, aber es lassen sich Muster erkennen“, sagt Tobias Allers, 32, zertifizierter Berlin-Guide, Gründer des Stadtführungsbüros „Berlin Kultour“ und jetzt auch Buchautor. Seit Längerem bietet er Stadtführungen zur Migrationsgeschichte Berlins an. Sie heißen: „Geflüchtete in historischer Perspektive“. Nun hat er all seine Recherchen und Erzählungen vom Mittelalter bis in die heutige Zeit in einem spannenden und reich illustrierten Band mit dem Titel „Neuberliner“ aufgeschrieben.

Viele Parallelen zur aktuellen Flüchtlingssituation entdeckt man darin. Allers stellt die heutige Debatte auf überzeugende Weise in einen historischen Rahmen, das ermöglicht mehr Gelassenheit beim Umgang mit dem Thema, eine erfreuliche Folge dieser Lektüre. Letztlich wurde Berlin entscheidend auch von jenen geprägt, die durch Flucht und Migration kamen, erst dadurch gewann die Stadt kulturelle Vielfalt, entwickelte sie sich zur Metropole. Und mancherlei Aufgeregtheiten von damals lösten sich in den folgenen Jahrzehnten in Wohlgefallen auf. So war es auch bei den Réfugiés: Anfangs heirateten sie unter sich, schon in der zweiten oder dritten Generation nahmen die Mischehen aber stark zu.

Einwanderungswellen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert

Fundiert und übersichtlich schildert der Autor die Einwanderungswellen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Er legt dar, weshalb die Integration mal besser klappte oder mal weniger gut wie bei den asylsuchenden Böhmen. In den Jahren 1732 und 1737 siedelten sich Hunderte als Glaubensflüchtlinge in Berlin an, doch ihre Integration wurde von Staatsseite weniger gefördert als zuvor bei den Hugenotten. Sogar Obergrenzen wurden bereits erwogen, um die Solidarität der Berliner nicht zu sehr zu strapazieren.

Tobias Allers zeigt auf, wie Emigranten ihre neue Heimat durch mitgebrachte Fertigkeiten bereicherten, wie immer wieder Fremdenfeindlichkeit durchbrach, vor allem bei den Juden, die ein ständiges Auf und Ab von Reputation und brutaler Verfolgung erlebten. Und schließlich gelangt man zur Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg, zur DDR-Ausreisewelle vor dem Mauerbau – und zur Ära der Gastarbeiter.

Der millionste Gastarbeiter wurde am 10. September 1964 in Deutschland begrüßt. Es war Armando Rodrigues aus Portugal. Als Geschenk bekam er am Bahnhof in Köln ein Moped geschenkt.
Der millionste Gastarbeiter wurde am 10. September 1964 in Deutschland begrüßt. Es war Armando Rodrigues aus Portugal. Als Geschenk bekam er am Bahnhof in Köln ein Moped geschenkt.

© dpa, Horst Ossinger

Diesen Begriff gab es allerdings erst ab 1963/64. Zuvor nannte man die Südeuropäer, die seit Mitte der 50er Jahre auch nach West-Berlin kamen, Fremdarbeiter – eine belasteter Terminus: So bezeichneten die Nazis zur Zwangsarbeit verurteilte Kriegsgefangene und Häftlinge. Doch auch das Wörtchen „Gast“ war nicht nur im Sinne von Gastfreundlichkeit gemeint, obwohl die Männer wegen des damaligen Arbeitskräftemangels offiziell freudig begrüßt wurden. Es signalisierte zugleich: Wenn ihr nicht mehr gebraucht werdet, müsst ihr heimkehren.

Als in Kreuzberg nicht mehr als 30 Prozent Ausländeranteil erlaubt war

Aber Menschen lassen sich nicht verplanen wie Produktionsabläufe. Tausende holten ihre Familien nach, bekamen unbefristete Arbeitsverträge. Sie wollten auch nach der Ölkrise 1973 bleiben, obwohl es nun plötzlich wieder Arbeitslosigkeit gab. Der Migrantenanteil in Berlin nahm zu, 1971 hatte jedes fünfte West-Berliner Kind ausländische Eltern. Nur: Die Integrationsbemühungen hielten nicht Schritt. 1979 besuchten bis zu 20 Prozent der schulpflichtigen türkischen Kinder keine Schule. Und 1975 wurden bereits Zuzugssperren für Altbauviertel erlassen, in Kreuzberg lag der zulässige Ausländeranteil bei 30 Prozent.

1989 wurde dieses Gesetz wieder gestrichen. Es war ein höchst umstrittener Eingriff in die persönliche Freiheit, heute erinnert sich kaum mehr jemand daran.

Tobias Allers: Neuberliner. Migrationsgeschichte Berlins – vom Mittelalter bis heute. Elsengold-Verlag, Berlin. 176 Seiten, ca. 120 Abbildungen, 29,95 Euro.

Erhältlich im Buchhandel oder online über den Bookshop von Berlin Kultour

Am Donnerstag, 27. Juli, findet auf dem Gelände des neuen "Holzmarkt 25" (DingDongDom, Holzmarktstraße 25, schräg gegenüber vom Ostbahnhof) eine Lesung mit Bookreleaseparty statt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false