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Berlin: Gertrud Aigner (Geb. 1962)

Ihr zu helfen, fällt leicht. Man weiß ja, wie stark sie ist

Was mache ich hier?“ fragt eine Frau in die Kamera. Sie dreht sich dabei, kreist durch ein Tanzstudio, streckt ihren trainierten Körper. Unterbricht sich kurz darauf, wie zurückgeholt in die Realität: „Ich muss doch die Kinder abholen. Ich muss doch einkaufen. Was mach’ ich hier?“ Die Frau in dem Video ist Gertrud. „Die Leiter“, so heißt der Kurzfilm aus dem Jahr 2005. Er erzählt davon, dass man im Leben auf manche Leiter steigen muss, um den Überblick zu behalten.

Gertrud war im Leben noch viel schöner als in dem Film. Und sie ist auf viele Leitern gestiegen, ohne zu klagen. Das hat sie schon als Mädchen gelernt, als sie der Vater im bayerischen Donauwörth zu Wanderungen in die Alpen mitnahm, die zu groß waren für ein Mädchen von acht Jahren.

Oder als sie mit 23 nach New York geht, um bei Martha Graham Tanzen zu lernen. Da erst wird ihr klar, dass die väterliche Überforderung lediglich ein zarter Vorgeschmack war. Als das Geld in New York nicht mehr zum Überleben reicht, vermitteln Freunde Jobs. Gertrud zu helfen, fällt leicht: Man weiß ja, wie stark sie ist – und dann dieses Lachen, mit dem sie jedes Unheil einfach verschwinden lässt.

1992 kommt sie nach Berlin. An der Kreuzberger Tanzfabrik bringt sie Kindern und Jugendlichen bei, wie faszinierend es ist, den Körper zu entdecken, ihn zu beherrschen, sich gemeinsam zu bewegen. Sie tanzt mit ihnen die Tarantella, den schnellen italienischen Volkstanz, und erzählt die Geschichte: Wenn die Tarantella, eine kleine giftige Spinne, eine Frau beißt, dann muss diese so lange tanzen, bis sie wieder geheilt ist vom Gift, bis zur totalen Erschöpfung. Für die Kinder ein Riesenspaß – und auch für Gertrud.

Ihre Choreografien werden gezeigt, im Hebbeltheater, an der Akademie der Künste, im Radialsystem. Später beginnt sie zusätzlich, in Pilateskursen die Rücken der Großstädter zu stärken. Sie ist viel unterwegs, zu den Kursen, auf der Suche nach Kostümen, nach Einfällen. Sie verausgabt sich. Denn Maß halten heißt Stillstehen. Stillstehen ist nichts für Gertrud.

1996 wird ihre erste Tochter geboren, fünf Jahre später die zweite. Nach der Trennung vom Vater erzieht sie die Kinder allein, voller Hingabe und Einfallsreichtum.

Zum Kindergeburtstag fährt sie mit einer Horde Grundschüler für ein paar Stunden an die Ostsee zum Drachensteigen, im Winter geht es mit dem alten Kombi zum Schlittschuhlaufen auf die gefrorenen Arme des Spreewaldes, bis spät in die Nacht bastelt sie an Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spielen mit Kreuzberg-Karte, jeder Spielstein handgemacht. Die Skiurlaube in Südtirol, eigentlich unbezahlbar, müssen sein. Das Leben ist viel zu kurz, um nicht auch mal das Konto zu überziehen.

Im letzten Herbst muss Gertrud ins Krankenhaus, eine Routineoperation, kursfreundlich in die Herbstferien gelegt. Und plötzlich ist von Metastasen die Rede und von Hoffnungslosigkeit.

„Aber das geht nicht. Ich hab doch kleine Kinder!“ Ein gutes Argument, aber an wen soll sie es richten? Da steht keine Leiter mehr, auf die sie steigen kann, nirgends.

Nach der Verzweiflung keimt noch einmal Hoffnung. Und der vom Vater geerbte Humor: Ein Rap auf die wuchernde Leber. Weihwasser aus Lourdes auf den kranken Körper. Die Idee einer Pilates-DVD „für Totgeweihte“. „Ich schieße bis zur letzten Kugel!“, sagt sie.

Doch ihr über Jahre trainierter Körper lässt sie im Stich. Die Freundinnen, ihr Bruder Uli und die Kinder, alle sind um sie, es wird musiziert, gebetet, geredet. Und als das Lachen schwächer wird wie der ganze Körper, da zeigt Gertrud zum letzten Mal ihre Löwenkraft. Sie lässt los, alles was sie liebte.

„Was mach’ ich hier?“, die Frage steht im Gesicht der vielen Freunde, die zum Abschied auf den sonnigen, verschneiten Friedhof gekommen sind. Dass ausgerechnet Gertrud vor ihnen gehen sollte, damit hat niemand gerechnet. Susanne Burkhardt

Susanne Burkhardt

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