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Die Anwalts- und Gerichtskosten hätte eigentlich der Angreifer zahlen sollen.

© FOTOLIA

Gerichtskosten: Berliner Prügelopfer muss für Angreifer bezahlen

Ein junger Dachdecker aus Berlin wird auf einem Dorffest mit einem Bierglas angegriffen. Doch der Täter kann Schmerzensgeld und Prozesskosten nicht zahlen.

Von Fatina Keilani

Ein Berliner wurde in Kassel Opfer einer Straftat - und soll jetzt die Anwaltskosten des Täters tragen. Dieser hat nämlich kein Geld.

Was war geschehen? Leon M. ist Berliner und heute 25 Jahre alt. Im Oktober 2015 machte er gerade seinen Meister als Dachdecker und Zimmerer und ging dafür in Kassel auf die Meisterschule. Eines Abends besuchte er dort ein Dorffest, und was dort geschah, beschrieb M. in einer Mail an den Tagesspiegel wie folgt: „Mir wurde völlig aus dem nichts ein Bierglas von hinten gegen mein linkes Ohr geschlagen. Sofort platzte meine Ohrmuschel sowie meine Wange und Nase an sämtlichen Stellen auf. Ich sackte zusammen und wusste nicht, wie mir geschah.“ Allein das Ohr musste mit 28 Stichen genäht werden, dazu kam eine Gehirnerschütterung.

Aufgrund von Zeugenaussagen wurde der Täter schnell gefunden - es war der heute 37-jährige René B., Deutscher, damals verheiratet. Leon M. erstattete Anzeige. Im Juni 2016 kam es zum Prozess, in dem sich herausstellte, dass wohl eine Verwechslung vorlag. René B. sagte aus, der attackierte M. habe sich des Öfteren an B.s Mutter herangemacht; diese aber sagte dann als Zeugin aus, Leon M. nie gesehen zu haben.

Das Strafgericht handelte die Schmerzensgeldansprüche des Opfers gleich mit ab; es wurde ein Vergleich geschlossen. René B. musste 2000 Euro Schmerzensgeld an Leon M. zahlen, dazu sämtliche Gerichts- und Anwaltskosten. Das Schmerzensgeld sollte in Raten zu 50 Euro bezahlt werden. Gehe eine Rate einmal nicht ein, so sei direkt die ganze Summe fällig, steht in dem Vergleich. Doch es kam kein Geld.

Stattdessen bekam Leon M. einen Brief von seiner Anwältin, deren Rechnung eigentlich der Schläger hätte bezahlen sollen. Sie drohte ihrem Mandanten an, dass die Rechnung immer höher werde, wenn er jetzt nicht anstelle des Angreifers die Gerichts- und Anwaltskosten zahle - und so zahlte er.

Leon M. sollte Anwalts- und Gerichtskosten zahlen

Bis Ende Januar 2019 passierte nichts weiter. Doch dann kam plötzlich ein Brief vom Amtsgericht Kassel mit der Aufforderung, nochmals 840,52 Euro zu zahlen, plus 127 Euro Gerichtskosten plus die Anwaltskosten des Gegners. „Ich war echt sprachlos, jetzt muss ich als Opfer, welches einfach so mit einem Bierglas niedergeschlagen wurde, noch 1340,52 Euro zahlen, da er es nicht kann. Wer bleibt hier bei dem Opfer?“, fragt Leon M.

Leon M. erlitt schwere Verletzungen an Ohr und Gesicht.
Leon M. erlitt schwere Verletzungen an Ohr und Gesicht.

© Privat

Der Weiße Ring habe ihm klargemacht, dass er nur für Hilfebedürftige da sei und er als Normalverdiener nicht darunter falle. „Trotzdem kann ich mir nicht einfach so 1340,52 Euro leisten, das ist für mich sehr viel Geld“, sagt der Dachdecker. Er frage sich auch, wo da die Gerechtigkeit sei.

Anruf beim Anwalt des Angreifers René B. in Kassel. Warum hat sein Mandant nicht gezahlt? Zum Fall könne er nichts sagen, der Anwalt, da gelte die Schweigepflicht. Aber generell sei es im Zivilrecht durchaus so, dass derjenige erstmal zahlen müsse, der ein Verfahren anstrengt. Anders im Strafrecht - M. als Opfer einer Straftat habe für die strafrechtliche Verfolgung sicherlich keine Kosten zu tragen gehabt, wohl aber für die Geltendmachung seines Schmerzensgeldanspruchs.

M. könnte sich einen Teil des Geldes zurückholen

Genau hier liegt die Crux: Der Schmerzensgeldanspruch ist zivilrechtlicher Natur. Diesen hat Leon M. als Geschädigter verlangt. Um zu verhindern, dass Bürger einander aus Daffke verklagen, gibt es die Regelung, dass der Kläger zunächst die Kosten des Rechtsstreits trägt. Gewinnt er, muss der Unterlegene zahlen.

Wenn dieser aber nichts hat, so sieht das Gerichtskostengesetz tatsächlich vor, dass der Kläger erstmal auf den Kosten sitzen bleibt - schließlich will man nicht dem Steuerzahler die Kostenlast eines privaten Rechtsstreits aufbürden.

Anders im Strafrecht. Wer Opfer einer Straftat wurde, muss die Kosten natürlich nicht tragen. Es ist Aufgabe des Staates, Recht und Ordnung durchzusetzen und den Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Einen Trost hat der gegnerische Anwalt immerhin für M.: Der geschlossene Vergleich gebe ihm einen Titel, aus dem er 30 Jahre lang vollstrecken könne. Sollte B. also wieder zu Geld kommen, könnte M. sich seinen Teil zurückholen.

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