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Alt trifft auf neu im Neuköllner Schillerkiez.

© Kitty Kleist-Heinrich

Gentrifizierung in Neukölln: Frau Döring blieb

Im Jahr 1930 zog sie, damals vier Jahre alt, mit ihren Eltern in die Wohnung im Neuköllner Schillerkiez. 83 Jahre später wohnt Frau Döring immer noch genau dort, wo sich alles andere über die Jahre immer wieder verändert hat.

Als sie einzogen, lebten in diesem Haus 75 Kinder. Ein Traum, denn sie war gerade vier Jahre alt. 76 wuchsen dort also auf, zogen fort, starben. Nur sie ist geblieben. Frau Döring wohnt im Neuköllner Schillerkiez, im selben Haus, in derselben Wohnung seit nunmehr 83 Jahren. Im vergangenen Dezember ist sie 87 geworden. Als die Hauseigentümer vor Jahren auch ihre Wohnung sanieren wollten, winkte sie ab. Nicht hier, nicht mit ihr, alles von links nach rechts räumen und wieder zurück, das ganze lange Leben auf den Kopf stellen, entrümpeln, nee, sagt Frau Döring und schüttelt den Kopf. So blieb alles, wie es ihr am liebsten ist; wie es war.

Die Handwerker arbeiteten an ihr vorbei und um sie herum. Sie renovierten die Wohnungen nebenan, die über und die unter ihr. Dem alten Haus verpassten sie einen Anstrich, etwas Helles. Eine Weile fiel es sogar auf, so freundlich zwischen all den heruntergekommenen Gebäuden mit ihren dunklen Fassaden. Inzwischen steht es so herausgeputzt nicht mehr allein. Es tut sich was.

Frau Dörings Nachbarschaft ist ein rechteckiges Stückchen Nord-Neukölln, begrenzt von der Hermannstraße im Osten, dem ehemaligen Tempelhofer Flughafen im Westen, im Norden und Süden von der Flughafen- und der Leinestraße. Auf Luftbildern sieht die Gegend aus wie eine große, in silbergrünes Papier verpackte Tafel Schokolade, gekästelt in Blockbauweise, die Straßen so gerade, dass sich nicht mal ein Betrunkener verlaufen könnte, von denen es hier mal viele gab. Bis mit dem Fall der Mauer und den Plänen zur Schließung des Flughafens langsam begann, was manche im Viertel als Chance betrachten, andere als Untergang und was sich am neutralsten wohl mit dem Wort "Entwicklung" beschreiben lässt. In etwa könnte man sagen: Von dem Zeitpunkt, an dem Frau Dörings Leben begann, immer langsamer zu werden, legte es draußen erst richtig los. Dass Frau Döring nicht sagen möchte, wie sie wirklich heißt, dass sie Angst hat, ihre genaue Adresse preiszugeben, hat auch damit zu tun. Seit etwa drei Jahren kommt sie nicht mehr viel aus dem Haus. Treppe runter ginge ja noch, aber wieder hoch, das ist fast unmöglich geworden und nur mit Hilfe noch machbar. Feste klingeln muss man - und kurz warten, bis eine kleine, zierliche Frau die Tür öffnet, der Kopf kaum höher als der Türgriff, was auch ein bisschen daran liegt, dass sie leicht gebeugt geht. Aber nur ein bisschen.

Frau Döring ist so klein, dass die, die sie lieb haben, Ömchen sagen, mit gespitzten Lippen. Als wäre Oma schon zu groß. 99 Zentimeter maß sie, als sie Anfang der 1930er Jahre in einer Mädchenschule auf der Schillerpromenade eingeschult werden sollte. Zu klein, sagte der Direktor. Die Mutter insistierte. Langsam wuchs sie über die Jahre auf immerhin fast einen Meter fünfzig, nun wächst sie wieder gen Boden, sozusagen, altersbedingt. Von ihren drei Zimmern bewohnt sie aus praktischen Gründen nur noch eines wirklich, die Stube, direkt neben dem Bad. Und so hat sie ihre schöne Wohnung, durch einen Wanddurchbruch irgendwann gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts offiziell vergrößert, wieder auf Maße geschrumpft, die sie hatte, als Familie Döring einzog, 1930: ein Zimmer plus Küche.

In diesem Zimmer sitzt Frau Döring nun. Ein zartes Persönchen in einem breiten Sessel. Sie trägt einen rosafarbenen Pullover und ihr schneeweißes Haar kurz geschnitten. Frau Döring winkt nur ab, aber sie ist eine schöne alte Dame, die mit eleganten Händen sortiert, was sie vorbereitet hat. Notizen, eng beschriebene Zettelchen, Fotos und Dokumente. Auf dem Wohnzimmertisch liegt, verblichen und vergilbt, in eigentümlich länglichem Format, der erste Mietvertrag der Eheleute Döring mit der damaligen Eigentümerin des Hauses. Unterzeichnet am 17. November 1930, Quergebäude, 2. Treppe Mitte, 32,25 Reichsmark im Monat. Ein Quittungsheft liegt bei. Bis in die 40er ist dort verzeichnet, dass die Eltern regelmäßig ihre Miete zahlten, gestiegen ist sie in der Zeit nicht. Jetzt aber, mal wieder. "Gerade", sagt Frau Döring, "war jemand da wegen Mieterhöhung." Sie hat die Zettel zu den Unterlagen gepackt, weiß noch nicht, was sie damit anfangen soll, eine Bekannte wird die Tage mal draufschauen. Verrückt, was diese Wohnungen kosten. Das Haus, in dem sie wohnt, gehört inzwischen einem englischen Investor. Sie möchte nicht verraten, was sie zahlen muss. Aber über ihr und unter ihr, das weiß sie, liegt die Miete bei rund 800 Euro im Monat, was offensichtlich weitaus mehr ist, als sie zu zahlen bereit wäre, gar: zahlen könnte. Frau Döring schüttelt den Kopf. "Wer will denn hier leben?" Viele.

Laut einer Studie der Topos-Stadtforschung aus dem Frühjahr 2012 sind in den Jahren seit 2009 besonders häufig sogenannte "Pioniere" in den Schillerkiez gezogen. Das klingt nach Abenteuer, und vielleicht kommt es manchen von ihnen auch so vor. Denn viele Pioniere sind Studenten, Auszubildende oder Künstler. Geld brachten sie keines. Aber sie reduzierten den noch vor Jahren beachtlichen Leerstand im Gebiet auf einen Berlintypischen Durchschnitt. Sie füllten den Schillerkiez auf.

Sie suchen eine Wohnung? "Malen Sie sich doch eine"

Damals, als die Eheleute und jungen Eltern Döring auf der Suche nach einer größeren Wohnung waren, ergab es sich rein zufällig, dass sie überhaupt eine fanden. Sie suchen eine Wohnung? "Malen Sie sich doch eine", hieß es auf dem Amt. Ein Nachbar wusste schließlich: Da drüben ist einer gestorben, geht mal und schaut es euch an. Das passte dann. Ein Glück auch für den Vater, der Malermeister war. Denn in der Gegend gab es gut zu tun. Er hat Wände und Decken gestrichen, wenn gewünscht auch tapeziert. Aber er hat auch gemalt, richtig gemalt, in Öl. Überall in ihrer Wohnung hat Frau Döring Bilder des Vaters hängen, ein besonders großes über dem Sofa, das jetzt auch Bett ist, in ihrer Stube. Es zeigt ein prächtiges Blumengesteck vor dunklem Grund, bemerkenswert aber ist auch der Rahmen. Goldverziert, geschnitzt in Handarbeit, schwer. Er ist das Geschenk einer jüdischen Familie aus der Nachbarschaft, die vor Kriegsbeginn nach Amerika floh. Kunden ihres Vaters. Die wussten beim Packen nicht wohin mit dem schweren Ding, so schön es auch war, und baten: "Herr Döring, wenn Sie mir das Bild so einpacken können, dass ich es mit nach Amerika nehmen kann, dann schenke ich Ihnen den Rahmen. Bei Ihnen ist er in guten Händen." Er ist es noch immer. Denn Frau Döring hütet die Vergangenheit, sitzt in ihren Erinnerungen so bequem gepolstert wie in ihrem breiten Sessel. Das Gestern wird gemütlich, wenn einem das Heute davonrennt.

Der Flughafen Tempelhof schloss 2008, zwei Jahre später wurde das Feld für die Berliner zum Park, zur riesigen Spielwiese, zum großen Sportplatz - und der Schillerkiez vom vernachlässigten Wohngebiet zu einem der begehrtesten. Was die Jahre zuvor schon schleichend begonnen hatte, beschleunigte sich: Investoren investierten, neu Zugezogene mischten sich unter Alteingesessene. "Mit der Öffnung des Flugfeldes ging die Veränderung plötzlich schnell", sagt Gunnar Zerowsky. Er sitzt im Büro des Quartiersmanagements und nimmt sich Zeit, die er kaum hat. Seit Beginn des Jahres ist der 34-Jährige Teamleiter hier, und wie sich das Gebiet rundum wandelt, interessiert ihn nicht nur beruflich, sondern auch privat. Gunnar Zerowsky lebt in der unmittelbaren Nachbarschaft zu seinem Büro, in der Herrfurthstraße. Der Schillerkiez, erklärt er, sei "ein bisschen ein Durchgangskiez", was zum einen bedeutet, dass hier nur wenige seit mehr als 15 Jahren wohnen, zum anderen, dass viele, die durch die Straßen laufen, ein Ziel haben: das Tempelhofer Feld.

Von der lauten Hermannstraße abzubiegen, hinein in Frau Dörings Straße, ist beruhigend. Langsamer gehen, nicht mehr ständig ausweichen - Hunden, Radfahrern, den Grabbeltischen der Billigläden auf dem Bürgersteig. Am Ende der Straße strahlt die Sonne übers Kopfsteinpflaster, von Weitem sieht es aus, als führe der Weg ins Nichts. Und es ist ja auch so. Nichts gibt es da mehr, nur die Weite des Feldes. Im Gegenlicht sehen die Menschen aus wie Scherenschnitte, ein Vater trägt das Laufrad seines Kindes. Seit einer Weile ziehen nicht mehr alle jungen Akademikerfamilien weg, wenn die Kinder eingeschult werden müssen. Rund 21 000 Menschen aus etwa 100 Nationen wohnen im Kiez und nur sechs Prozent von ihnen sind älter als 65. Rein theoretisch könnten sie alle davon profitieren, dass hier und dort neue Bars und Cafés öffnen, Kitas und Geschäfte. "Ist doch schön", sagt Gunnar Zerowsky, "wenn man in der eigenen Straße auch etwas essen gehen kann.

"Gunnar Zerowsky ist ein sympathischer Mann. Es wäre unfair zu sagen: Er hat leicht reden, er kann für ein Essen außer Haus zahlen. Also andersherum: Viele der Nachbarn können es eher nicht. Noch immer leben sehr viele Arbeitslose in der Nachbarschaft. Selbst wenn es inzwischen, auch das erzählt er, unmöglich sei, eine Sozialhilfe-finanzierte Wohnung im Schillerkiez zu finden. Das Quartiersmanagement in der Schillerpromenade gibt es inzwischen schon seit 15 Jahren. Die Hauptaufgabe der Mitarbeiter, so heißt es offiziell, sei es, "Projekte zu fördern, die dazu beitragen, einen für alle Bevölkerungsgruppen lebenswerten Kiez zu gestalten". Sie verteilen Gelder möglichst so geschickt auf verschiedene Projekte, dass die ganze Nachbarschaft etwas davon hat. Natürlich entscheidet die mit - aber gemeinsam in einer Straße leben heißt noch lange nicht: sich einig zu sein. Die Fassade des Hauses, in dem das Quartiersmanagement sein Büro hat, ist mit schwarzbrauner Farbe verschmiert. Nicht allen gefällt es, dass Zerowsky und sein Team versuchen, das Leben im Kiez angenehmer zu machen. "Angenehm" ist eben subjektiv. Veränderung macht auch Angst.

Dabei gibt es Zahlen, die belegen: alles halb so wild. Die Studie der Topos-Stadtforschung kommt für das "Gebiet Schillerpromenade" unter anderem zu folgendem Schluss: Die Zuwanderer der vergangenen Jahre haben ein "Einkommen oberhalb des Gebietsmittels. Es ist allerdings nicht erkennbar, dass ein soziokultureller Aufwertungsprozess in Gang gesetzt worden wäre, da nicht mehr Haushalte mit überdurchschnittlichen Einkommen, sondern weniger Arme ins Gebiet gewandert sind. "Wie schwer aber wiegt Statistik, wie schwer ein schlechtes Gefühl, wenn man im Viertel lebt? Wenn der neue Eigentümer des Hauses droht, alle Wohnungen zwecks Sanierung zu räumen, wenn die Mieten steigen? Auch die Schillerbar in der Herrfurthstraße haben die Gefühlsmenschen mit Farbbeuteln beworfen. Rot auf gelber Fassade. An eine der Wände malte jemand ein Herz, ob vorher oder nachher ist nicht erkennbar. "Schiller liebt euch sowieso", steht darin. Es ist nicht nur Frau Döring, die an ihrem Gestern hängt.

Auf alten Postkarten sieht die Gegend herrlich aus

Von ihren neuen Nachbarn kennt sie nicht viele, gerade mal zwei, drei. Die haben ein Auge auf die alte Dame - und sie hat ihre Telefonnummern. Aber dass man sich kennt, wie damals, das sei nicht mehr so, sagt sie. Damals, wenn wem was fehlte, hieß es immer: Geh mal zu den Dörings. Dabei hatten die auch nicht mehr als alle anderen, nur wirtschafteten sie vielleicht besser. Dass sie versuchten zu helfen - keine Frage. Man wusste ja Bescheid über die Umstände, dass der Nachbar oben seine Kinder aus der Wohnung wirft, wenn er wieder blau ist; dass dieser oder jener gerade schlecht dran ist. Früher hörte Frau Döring, wie der Bäcker im Erdgeschoss des Nachbarhauses frühmorgens seine Schrippen in den Ofen schob, heute hört sie rundum Fernseher und Getrappel von Menschen, die sie vielleicht noch nie gesehen hat.

Vor ein paar Jahren sah sie immerhin, wie mittags ständig junge Menschen die Wohnung über ihr besuchten. Sie kamen und gingen mit Kisten, sonst war Ruhe. Der Wasserverbrauch stieg, sie verlangte nach einer eigenen Wasseruhr. Der Handwerker sagte ihr schließlich: "Kein Wunder, Frau Döring, die Pflanzen müssen ja Tag und Nacht berieselt werden." Er grinste. Sie wunderte sich - bis kurz darauf das Kistentragen ein Ende hatte. Hinter der Tür im dritten Stock verbarg sich keine Wohnung, sondern eine beachtliche Hanfplantage. Und irgendwann hatte wohl auch die Polizei davon erfahren. "Haschisch", sagt Frau Döring und hält sich kichernd die Hand vor den Mund. So was.

Das Gebiet, auf dem ihr Haus heute steht, das heute der Schillerkiez ist, bestand noch vor etwas mehr als hundert Jahren hauptsächlich aus Feldern und Ackerland. Im Jahr 1875 wurde erstmals ein Bebauungsplan für die Gegend in jenem Quartier entworfen, das erst ab 1912 Neukölln hieß, damals jedoch noch die Berliner Vorstadt Rixdorf war. Eine vorbildliche Neubausiedlung sollte dort entstehen. Man hoffte, wohlhabende Bürger würden in die schönen Häuser ziehen - und das Steueraufkommen der klammen Stadt aufbessern. Die Dottische Terraingesellschaft, die große Teile des Gebiet erworben hatte, ließ 1901 an der Ecke Hermannstraße, Steinmetzstraße (heute Kienitzer Straße) ein Musterhaus errichten, dessen prachtvolle Fassade und für damalige Verhältnisse komfortable Innenausstattung - jede Wohnung hatte eine eigene Küche und eine Innentoilette - Beispiel geben sollte für die anderen Häuser im Kiez. Die Arbeiten, zu denen sich die Terraingesellschaft fürderhin verpflichtet sah, beinhalteten: Erdarbeiten, Entwässerung, Wasserversorgung, Gasbeleuchtung, Pflasterung, Baumpflanzung und gärtnerische Anlagen, Einzäunung, Erhaltung der Anlagen bis zur Abnahme oder auch für eine angemessene Frist danach bis zur endgültigen Übernahme der Straßen in die Verwaltung der Stadt.

Auf Fotos und Postkarten aus der damaligen Zeit sieht die Wohngegend herrlich aus. Die Fassaden der Häuser sind mit Stuck und Ornamenten geschmückt, auf dem Bürgersteig flanieren unter Gaslaternen Männer mit Gehstock und Hüten, untergehakt die Frauen in langen Kleidern. Die Eckhäuser der Schillerpromenade zierten Türmchen, Blumen blühten auf dem Mittelstreifen. Die Straße erscheint sehr großzügig, fast wie ein Park. Jahrzehnte später, etwa Mitte der 80er, sah die Gegend vor allem im Winter besonders schön aus. Dann nämlich, wenn der Schnee ordentlich und weiß den Müll auf den Gehsteigen verdeckte, die wild wuchernden Büsche rundum elegant tünchte. Die Instandsetzung der Schillerpromenade 1979 war mit viel Waschbeton vielleicht "zeitgemäß" gewesen. Einladend oder hübsch aber war sie nicht. Doch auch heute könnte die Gegend wohl selbst mit der größten Mühe nie wieder so werden, wie sie früher einmal war. Das wird deutlicher, je mehr Bilder man betrachtet: Denn die Promenade wirkte auch deshalb so luftig, weil vor 100 Jahren kein einziges Auto dort parkte.

"Schillerpromenade 28, schönstes Wohngebiet Rixdorfs (neues Haus), nahe, bequeme Verbindung nach allen Richtungen", so warb ein Hauseigentümer im Dezember 1908 im Rixdorfer Tageblatt um Mieter. Und tatsächlich war die gute Anbindung an den Rest Berlins auch ein Argument für die Familie Döring, in die Gegend zu ziehen und anschließend nie wieder fort. 1899 eröffnete ganz in der Nähe der Bahnhof Hermannstraße, Ende der 1920er Jahre schließlich die U-Bahnhöfe Boddin- und Leinestraße. Eine Straßenbahn fuhr sowieso kreuz und quer. Direkt vor ihrer Haustür hätte Frau Döring als junges Mädchen einsteigen können. Und doch ging sie lieber bis zum Hermannplatz zu Fuß, um noch fünf Pfennige zu sparen. Ihr Vater, obwohl selbstständiger Maler und Lackierer, gehörte womöglich nicht ganz zu dem Klientel, das sich die Stadtplaner für das Viertel gewünscht hatten. Im Heimatmuseum Neukölln lässt sich in sehr alten Dokumenten nachlesen, wer um 1906 in der Schillerpromenade wohnte. Die Seiten der Akten sind stabil - und doch mit weichen weißen Handschuhen anzufassen, auf denen der Staub ganz feine Flecken hinterlässt. Ehrfurchtsvolles behandschuhtes Umblättern, Namen von Kaufleuten, von Zimmer- und Klempnermeistern. Alles in allem gelang es Rixdorf aber auch an dieser Stelle nicht, den Ruf des Arbeitervorortes loszuwerden.

Dörings hatten nie viel. Aber es reichte. Als Frau Döring klein war, besaß der Vater ein Motorrad mit einem Kasten-Beiwagen, auf dem er Leiter und Malerzeug transportierte. An jedem Sonntag tauschten sie den gegen einen richtigen Beiwagen aus, Frau Döring nahm die Tochter auf den Schoß - und los ging’s ins Grüne. Immer ins Grüne, immer. Das prägt. Jahr um Jahr verbrachte Frau Döring ihre Urlaube später in Mittenwalde, wo sie stundenlang spazieren ging. So oft sie konnte war sie auch in ihrem Garten in Britz, jeden Sommer, so oft es sich einrichten ließ, in der Laube. Ein Sonnenuntergang dort war ihr immer lieber als jedes Fernsehprogramm. Ohnehin hat sie nie einen Fernseher besessen. "Dafür habe ich keine Zeit", sagt Frau Döring. Sie ist mit ihrem Alltag beschäftigt. Nichts geht mehr schnell.

Niemand wollte in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof wohnen

Vorsichtig steht sie aus dem Sessel auf und geht zu einer kleinen Kommode. Sie zuppelt am Gummiband, das die beiden Knäufe zusammen- und die Türen geschlossen hält. Auf dem obersten Regalbrett hat sie Dutzende Gläser stehen. Eingekochtes Pflaumenmus. Aus dem Garten, von dem sie sich noch immer nicht trennen will, wenn sie auch kaum noch hinkommt. Konservierter Sommer, mitten in einem kalten März. Es gibt Bilder von ihr als kleines Mädchen, da sieht es schon so aus, als sei das Kind, geboren im Winter, eher gemacht für den Sommer. Hauptsache sie konnte draußen sein. "Ich hatte eine wunderbare Kindheit", sagt Frau Döring heute. Auf einem Foto sitzt das Mädchen glücklich im Matrosenkleid neben der Mutter, die ihre blonden Haare kinnlang geschnitten hat, auf einer Bank im "Sport- und Volkspark Neukölln", den später der Flughafen schluckte. Ein Glück muss es gewesen sein, so nahe an diesem Park zu wohnen, der 1928 feierlich eröffnet wurde. Ein Kinderparadies: 433 550 Quadratmeter Fläche, darauf Sport- und Spielplätze und ein 4000 Quadratmeter großes Planschbecken. "Es gab Beete mit wunderschönen Rosen", erinnert sich Frau Döring, "und eine Ecke für die Männer, zum Kartenspielen". Zwar starteten und landeten schon seit 1923 Flugzeuge auf dem Tempelhofer Feld, doch in Maßen. Erst später dann, als ein Flughafen wichtiger war als Naherholung, vervielfachte sich der Verkehr rasant. Für 1924 sind 952 Starts und Landungen verzeichnet, für das Jahr 1935 immerhin schon 61 369.

So oder so, allein raus zum Spielen durfte Frau Döring als Mädchen nicht. Manchmal ging sie mit Erich, oder besser: er mit ihr. Erich, der Gehilfe des Vaters, ein junger Bursche aus der Nachbarschaft, bekam 50 Pfennige, wenn er mit der Kleinen spazieren ging. Für 50 Pfennige gab es mindestens ein Bier an der Ecke und für das Mädchen ein Eis. Was hat sie sich den Magen verdorben an diesem Eis. War ja gut gemeint gewesen, nicht wahr, aber der Eismann trug das Zeug womöglich schon den ganzen Tag durch die Sonne. Salmonellen vielleicht? Wer weiß. Schlecht ging es ihr jedenfalls, sterbenselend fühlte sie sich. Erich war das so unangenehm, der schämte sich so, dass er den Eiskauf erst gar nicht gestehen wollte. Dabei war ihre Mutter dem Erich gar nicht böse, war ja froh, dass er es zugab, irgendwann. Damit sie wusste, was los ist mit der Kleinen. Sowieso war die Mutter immer lieb, hat nie geschlagen, nie geschimpft. Frau Döring hat sie gepflegt, bis sie 85 war, in den 80ern war das, auch schon lange her. Da hatte die Mutter schon einen Herzkasper überlebt. In dieser Wohnung.

"Es waren immer Mutter, Vater und ich", sagt Frau Döring. Dann kam der Krieg, die SA marschierte durch den Kiez, in dem reichlich Kommunisten wohnten, was ein Pech war und später dann doch wieder ein Glück - als nämlich die Russen kamen. Aber erst mal also die SA und all die Nachbarn, die sie suchten und abholten. Ein Jude wohnte im Haus, zwei Söhne an der Front, im Kampf für Deutschland, den wollten sie auch mitnehmen. Da ging die Mutter zu den beiden Herren der Partei, die im Haus lebten, und sagte: Muss denn das sein? Zwei Söhne im Krieg und dann so was? Der Mann blieb. Aber den Vater konnte sie nicht retten. "Drei Wochen bevor der Käse zu Ende war", sagt Frau Döring, ging er verloren, blieb verschollen. All die Briefe, die er geschrieben hat, in denen er kleine Punkte unter die Buchstaben kringelte, damit sie sich zusammenreimen konnten, wo er gerade steckt. Kittsee, Österreich, in der Ecke ungefähr. Zwei seiner Kameraden beschlossen abzuhauen, zurück nach Berlin. Sie kauften sich einen Kranz und marschierten los. Wurden sie angehalten, dann sagten sie: Wir müssen in den nächsten Ort, wir müssen zu einer Beerdigung. Irgendwann standen sie vor Mutter Döring, ohne Kranz, und konnten nur sagen: Ihr Mann, der wollte nicht mit.

Es blieben also Mutter und Tochter, eng beieinander, wie es schon zuvor, in den Jahren des Krieges gewesen war. Das Haus ein Frauenhaus, bei Fliegeralarm saßen alle zusammen im Keller, warteten, und manchmal erzählten sie Witze. "Die kleine Edda Göring muss mal, mitten in der Nacht. Also geht sie aufs Töpfchen. Als sie fertig ist, zündet sie eine Kerze an und läuft ums Töpfchen. Edda, was machst du denn da? Wieso, Papa macht doch auch um jeden Scheißdreck einen Fackelumzug." Oder diesen: "Große Aufregung am Hermannplatz. Was ist denn los? Eine Riesenschildkröte! Am Hermannplatz? Ach ne, ist bloß der Göbbels mit’m Stahlhelm. "Die Herren aus der Partei wurden wild. Abholen sollte man die, riefen sie und meinten die Nachbarin, die von der Schildkröte erzählt hatte. Wieder schritt Mutter Döring dazwischen. Muss das denn sein? Lassen sie ihr doch den Galgenhumor. Was blieb denn sonst? Vor der Tür stand die Flak.

Die Mutter ist für Frau Döring bis heute eine Heldin. Weil sie ruhig blieb und klug. Und weil sie trotz allem noch lachen konnte. Über die Nachbarin, die aus Angst vor Bomben den Schmortopf auf den Kopf setzte. Über die Witze, an die sich Frau Döring Jahrzehnte später Wort für Wort erinnert. Bemerkenswert nicht, was verloren geht in 87 Jahren Leben, sondern was erinnerlich bleibt. Das Wichtige und das, was immer wieder erzählt wird, wenn Jahreszahlen und -zeiten auch verschwimmen. Das Gefühl. Wie unheimlich es damals war, als eine Bombe die Genezarethkirche auf der Schillerpromenade erwischte. "Das Feuer war so heiß, dass die Glocken läuteten", erzählt Frau Döring. Oder dass die Mutter vom Erich, dem Burschen des Vaters, später ermordet wurde. Schnell verbreitete sich damals - wann genau das war, egal eigentlich - das Gerücht: Es können nur zwei gewesen sein. Erich oder sein Bruder. Doch wer es nun war, hat man nie herausgefunden. Wohin mit all den Geschichten? Die Mutter ist tot, auf dem Sofa sitzt noch der Stoffhund, den sie als Kind geschenkt bekam, selbst älter als 80, eher Zeuge als Zuhörer. Frau Döring hat nie geheiratet. Hat sich nicht ergeben. Männer? "Reden wir nicht drüber", sagt sie. Freunde und Bekannte sind gestorben. Nun kommt ab und an jemand und schaut nach ihr, bringt Essen, kauft ein. Menschen rufen sie an und fragen, wie es ihr geht. Liebe Menschen. "Aber das sind ja alles Fremde", sagt sie. Wie lange jemand fremd sein kann, der so nah ist? Lange. Sieht man doch an den Nachbarn. Grüßt ja niemand.

Eine der lieben Menschen sagt: "Bei dir möchte ich im Dunkeln nicht gern durch den Hof gehen." Und wie oft haben sie schon Räder geklaut, aus eben diesem Hof? Frau Döring winkt wieder ab. Könnte also auch sein, dass jemand einbrechen und sie überfallen würde, wenn die draußen wüssten, wo sie wohnt und wie sie wirklich heißt. Dass es inzwischen nicht mehr ganz so düster aussieht, weiß sie nicht, weil sie drinnen sitzt. Sie könnte ja nun, wenn sie denn noch könnte, über belebte Straßen nachts zum U-Bahnhof Boddinstraße spazieren, was vor Jahren noch nicht empfehlenswert war. Denn Jahre nachdem sie den Krieg in der Schillerpromenade überstanden hatten, kamen neue, andere Probleme in den Kiez. Getragen wurden sie von Menschen, die unter all ihren Problemen so klein geworden waren, dass niemand sie mehr sah. Alle sahen nur die Probleme.

Weil die Berliner Bezirke Kreuzberg, Tiergarten und Wedding 1975 eine Zuzugssperre für "Gastarbeiter" erlassen hatten, zogen türkische, griechische, kurdische, serbische und kroatische Familien in den Norden Neuköllns. Mit ihnen kamen Flüchtlinge aus den verschiedensten Kriegs- und Krisenregionen der Welt. Mochten die einen auch hart arbeiten, so brachten die anderen ihre Traumata und ihre Sorgen mit, luden sie dort ab, wo zu dieser Zeit viele Wohnungen leer standen. Niemand wollte in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof wohnen, den seit Mitte der 50er auch große Düsenjets ansteuerten. Fast die Hälfte der Bewohner im Kiez war Ende der 60er wegen des Fluglärms in Behandlung, zwei Drittel von ihnen nahmen Schlaf- und Beruhigungsmittel. Aus dem Jahr 1968 gibt es ein Foto, das den Landeanflug einer Boeing 727 zeigt. So wie es aufgenommen ist, sieht es aus, als schwebe die Maschine - riesig - nur einen Fingerbreit über den Wohnhäusern im Hintergrund. Rechts unten in der Ecke des Bildes steht ein Mann am Zaun, an dem ein Schild hängt: "Vorsicht Lebensgefahr.

Alle Geschäfte, die sie kannte, verschwanden

Frau Döring sagt, dass die Flugzeuge sie nie gestört haben. Früher nicht und später auch nicht. "Man hat sich daran gewöhnt", sagt sie. War ja lange Zeit auch ein gutes Geräusch, das Motorengebrummel, hängen ja auch gute Erinnerungen dran. An die Zeiten der Luftbrücke, als die Maschinen alle zwei Minuten starteten und landeten. Da wurde man schon nervös, wenn länger Ruhe war. Kommt denn keiner mehr? Die kleinen Figürchen und Sammelstücke, die in ihrer Vitrine liegen und sitzen, musste Frau Döring später und all die ganzen Flughafenjahre lang immer wieder zurechtrücken. Die hüpften leise, aber stetig voran - wegen der Flugzeuge und der ständigen Erschütterung.

Von dem, was sich rundherum verschob, schmerzte Frau Döring eines am meisten: dass all die Geschäfte, die sie kannte, verschwanden. Sie zückt einen Zettel, auf dem sie kurz vor dem Gespräch versucht hat zu notieren, was sie erinnern kann. Also. Irgendwann gab es mal einen Fleischer in der Straße, einen Schuster und einen Frisör. An der Ecke, wo nun eine türkische Familie ihren Spätkauf betreibt, verkaufte ein Herr bis zum Krieg Seifen. Die Verkäuferinnen im Reichelt, den es früher an der anderen Ecke gab, kannten alle Kundinnen persönlich. Sie wussten, dass Frau Dörings Oma, die auch in der Nachbarschaft wohnte, gern Roquefort kaufte und ihn absichtlich falsch aussprach, um sie zu ärgern. "Ein Stück von dem Rockeforz bitte.

"Zwei Häuser weiter gab es schon immer eine Kneipe, solange sie denken kann. Aber auf der anderen Straßenseite, an der Ecke! Sie schaut auf ihre Notizen. Bis zum Krieg war da ein Kuhstall, später verkauften sie dort Lebensmittel. Heute ist es ein Internetcafé. Schicht um Schicht ist die Geschichte angewachsen, und immer wieder wird das Alte vom Neuen überlagert. Das eine Geschäft vom anderen, der Stuck und die Ornamente der Häuser von gleichmachendem Putz. Aus den engen, wieder und wieder beschriebenen Straßen des Schillerkiezes schält Frau Döring ihr Leben. Sie wollte hier nie weg. Wer hätte garantieren können, dass es woanders schöner ist? Alles, was schlecht ist, lässt sich mit Besserem vergessen machen. Das ganze Leben funktioniert ja nur so, wo läuft es schon rund.

Es war Frau Dörings großer Wunsch, Gärtnerin zu werden. Sie war 14, als sie ihr auf dem Amt sagten: "Sie können doch keine Gießkanne tragen." Und sie entgegnete wütend, was ihr nicht half: "Pah, ich trage sogar zwei." Das Kleinsein bewahrte sie vor dem Arbeitsdienst, aber es vermasselte ihr auch die Berufswahl - wenn nicht ohnehin der Krieg dazwischenkam. Gelernt hat sie viel, aber ausgelernt wenig. Bruchstücke einer Karriere: Sie arbeitete im Haushalt bei einer Familie in Weißensee und als Bürobotin. Sie lernte bei einer Familie in Hohen-Neuendorf Hauswirtschaft und war Kinderpflegerin. Sie lernte Masseurin, arbeitete nach dem Krieg in Pankow und wie sie im Sommer ’61 an der Bösebrücke plötzlich einem russischen Panzer gegenüberstand, ist schon wieder eine ganz andere, lange Geschichte. Irgendwann schließlich saß sie in einer Fabrik für Schreibmaschinentypen. Früher als geplant ging sie in Rente. Die schwere Arbeit als Masseurin, das Hochwuchten der Schlaganfallpatienten, hat ihr den Rücken ruiniert.

Frau Döring, der niemand etwas konnte, kein Fiesling vom Amt und nicht mal der Krieg, stolperte schließlich über das eigene Alter. Und jetzt hilft keine Koketterie mehr, jetzt helfen Medikamente. "Ich möchte eigentlich nicht sterben", sagt Frau Döring, ganz grundsätzlich und lachend, am Ende eines langen Gesprächs. "In so ’ner Kiste, da bekommt man ja gar keine Luft." Das Leben ist doch ganz schön. Schöner wäre es noch, wenn sie eine Katze hätte, so wie früher immer. Aber nachher bleibt die Katze übrig und niemand will sie. Das bringt sie nicht übers Herz.

Als sie sich vor Jahren doch einmal entschlossen hatte, wieder ein Haustier zu haben, ging sie in ein Zoogeschäft in Neukölln. "Welches Tier lebt nicht so lang?", fragte sie dort die Verkäuferin. Meerschweinchen, sagte die. Etwa acht Jahre. "Zu lang", sagte Frau Döring und sah in einem Käfig Mäuse. "Und die?" Ein Jahr etwa. Sie kaufte zwei, eine weiße und eine graue. Die beiden Mäuse hatten eine gute Zeit, sie lebten verflixt lange. Und doch war es am Ende Frau Döring, die blieb.

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