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Immer mehr Kinder und Jugendliche suchen sich psychische Hilfe im Chat

© imago/addictive stock

Generation Corona - jung, gestresst und einsam: Berliner Start-up hilft Jugendlichen mit psychischen Problemen per Chat

Seit Pandemiebeginn nehmen Stress, häusliche Gewalt und psychische Probleme zu. Krisenchat.de hilft Kindern und Jugendlichen übers Internet.

„Hallo. Alles ist scheiße gerade. Ich bin fertig und möchte nicht mehr.“ Nachrichten wie diese erreichen Melanie Eckert und ihr Team gerade fast täglich. Sie sitzt dann allein unter den hohen Decken ihrer Berliner Wohnung. Mal am Schreib-, mal am Esstisch, wo alles seine Ordnung hat. Weiße Wälzer über Psychotherapie stehen im Schrank, in einer Schale liegt Ingwer für den nächsten Tee. Hier, in Eckerts Homeoffice, ist es still. Über ihren Laptop aber drängt das Chaos, die Verzweiflung, der Stress, den die Pandemie auslöst, herein.

Die Nachrichten kommen aus ganz Deutschland. Hinter anderen Türen, unter tieferen Decken, drückt es, steigt der Lockdown-Stress. Immer mehr Kinder und Jugendliche melden sich deshalb bei Krisenchat.de, einer kostenlosen digitalen Notbetreuung.

Melanie Eckert, 32, ist Gründungsmitglied und psychologische Leiterin des Berliner Start-ups. Bei Krisenchat können junge Menschen bis 25 Jahre ihre Sorgen und Probleme anonym einschicken. Eine:r von insgesamt 250 ehrenamtlichen Berater:innen betreut sie dann im Chat.

24 Stunden am Tag sind die Berater:innen erreichbar. Sie alle haben einen psychologischen oder pädagogischen Hintergrund und ein Coaching durchlaufen, das Melanie Eckert mit ihrem Team und Fachleuten konzipiert hat.

Die Nachricht vom Anfang ist Bestandteil dieses Coachings. An dem fiktiven Beispiel sollen Berater:innen lernen, wie man im Chat kurzfristig helfen kann, selbst bei psychischen Problemen. Entstanden ist das Start-up im Homeoffice, während des ersten Lockdowns. Dann musste es schnell gehen. „Wir haben das Flugzeug quasi beim Fliegen gebaut“, sagt Eckert.

Finanziert wird das Projekt nach eigenen Angaben aus privaten Mitteln, „ein bisschen Crowdfunding“ und von Kooperationspartnern wie der Barmer Krankenkasse. Drei der Gründer sind erst um die 20. Dass sie auf einmal mit mehr als zehn Jahre jüngeren Abiturienten auf Augenhöhe arbeitete, war kein Problem für Eckert, sagt sie.

„Ich war eher geplättet von deren Professionalität.“ Außerdem helfe es dem Team, dass es selbst so nah an seiner Zielgruppe sei. Um sie zu erreichen, arbeitet Krisenchat.de auch mit Influencer:innen auf den sozialen Netzwerken Instagram oder Tiktok zusammen. Wenn die einen Beitrag posten, kann es schon mal sein, dass 300 neue Nachrichten kommen. In ein paar Stunden.

Mehr als 10.000 Gespräche haben die Berater:innen bei Krisenchat so schon geführt. Und das, obwohl es das Start-up noch nicht mal ein Jahr lang gibt. Krisenchat.de wächst zu einer Zeit, in der immer mehr Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen kämpfen.

71 Prozent fühlen sich durch Corona belastet

„Wir haben mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens in der Krise gerechnet“, sagt Ulrike Ravens-Sieberer, Professorin an der Uniklinik Hamburg Eppendorf, „dass sie allerdings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht.“ Zwischen dem 26. Mai und dem 10. Juni wurden in einer Studie unter ihrer Leitung 1000 Kinder und Jugendliche zwischen elf und 17 Jahren befragt.

Die psychologische Leiterin Melanie Eckert arbeitet seit Monaten aus dem Homeoffice.
Die psychologische Leiterin Melanie Eckert arbeitet seit Monaten aus dem Homeoffice

© Doris Spiekermann-Klaas

71 Prozent fühlen sich durch die Corona-Pandemie belastet. Zwei Drittel von ihnen geben ein geringeres psychisches Wohlbefinden an. Vor Corona war das nur bei einem Drittel der Kinder und Jugendlichen der Fall. Das könnte dazu führen, dass sich mehr von ihnen professionelle Hilfe suchen, bestätigt Cordula Jaletzke von der Ambulanz des Instituts für Psychotherapie in Berlin.

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Seit April 2020 gebe es auffallend mehr Kinder und Jugendliche, die sich bei der Ambulanz und den zugehörigen Psychotherapeut:innen in Berlin melden. Statistiken dazu gibt es allerdings noch nicht. Der Bundespsychotherapeutenkammer liegen noch keine Zahlen vor.

Ob es die „Generation Corona“, über die nun viel berichtet wird, also wirklich gibt, kann Melanie Eckert nicht sagen. Schließlich hätten sie bei Krisenchat.de keinen Vergleichswert. „Uns gab es ja vor Corona nicht.“ Was in den Chats aber auffällt, sind die vielen Zukunftsängste, gerade bei Jugendlichen, die im Übergang zwischen Schule und Berufsleben sind.

„Das wird was mit der Generation machen“

Außerdem gebe es sehr viele Fälle von häuslicher und sexueller Gewalt, gerade in Familien. Das würden auch andere Beratungseinrichtungen berichten. „Diese globale Unsicherheit plus die Unsicherheit in Familien plus die Einsamkeit, das wird was mit der Generation machen“, sagt Eckert, „ganz sicher“.

Junge Menschen bräuchten jetzt professionelle Hilfe, die unabhängig vom Ort ist. Viele klassische, ortsgebundene Hilfestrukturen seien im letzten Jahr weggebrochen. Vereine, Schulen, Kliniken. Sie alle können weniger auffangen. Bei Krisenchat.de hat man deshalb versucht, so schnell wie möglich zu helfen.

Dabei lege man viel Wert darauf, wissenschaftlich fundiert zu arbeiten. Eckert selbst arbeitet seit fünf Jahren in psychologischen Forschungsprojekten. Cordula Jaletzke vom Institut für Psychotherapie Berlin nennt Krisenchat.de „hilfreich“, wenn auch nur für kurzfristige Interventionen.

Die Bundespsychotherapeutenkammer bezeichnet digitale Angebote wie Krisenchat.de als „unkompliziert“. Es müsse aber klar sein, dass sich „Menschen, die sich in psychisch schwierigen Phasen befinden, an Behandelnde wenden sollen, die für die Diagnose und Behandlung von psychischen Störungen qualifiziert sind, also approbierte Psychotherapeut:innen oder Fachärzt:innen“.

Nicht alle sind für eine längere Behandlung qualifiziert

Die gibt es bei Krisenchat.de auch. Aber nicht alle Berater:innen haben dieWeiterbildung zur Psychotherapeut:in abgeschlossen. Das sei erstmal auch nicht nötig, sagt Melanie Eckert. Man sei ohnehin nicht auf längerfristige Beratungen und Therapien ausgerichtet, sondern würde die „Chatter:innen“ im Zweifelsfall an geeignete Einrichtungen verweisen.

Um auch während der Kontaktbeschränkungen weiter klassische Therapien anbieten zu können, ist ein Großteil der Psychotherapeut:innen laut Bundespsychotherapeutenkammer inzwischen auf Videositzungen umgestiegen. Allerdings zeige sich bei Kindern und Jugendlichen dabei das Problem, dass sie sich „bei Anwesenheit von Eltern oder anderen Bezugspersonen oft weniger frei äußern können“.

Jugendliche mit Konflikten im Elternhaus hätten eben nicht immer ungestörte Rückzugsmöglichkeiten. Bei Krisenchat.de gibt es dieses Problem weniger. Das Start-up holt die Jugendlichen da ab, wo sie sowieso schon sind, und wo ihre Eltern sie nur schlecht beeinflussen können: im Chat.

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Eckert und ihr Team hoffen, durch den niedrigschwelligen Zugang im Chat auch etwas gegen die Dunkelziffer bei psychischen Erkrankungen und Fällen von häuslicher und sexueller Gewalt zu tun. Häufig würden diese sich in solchen Fällen zu sehr schämen, um Hilfe zu suchen.

Das bestätigt auch Cordula Jaletzke. „Hemmungen, Scham und Angst“ machten es ihr zufolge schwierig für Jugendliche, sich Hilfe bei einer fremden Person zu suchen. Oft würden sie diesen Schritt erst spät gehen.

Eine Chatnachricht falle eben erheblich leichter, sagt Melanie Eckert, während sie auf ihrem Laptop durch die Nachrichten scrollt. Mehr als 500.000 haben sie schon bekommen.

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