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Mitarbeiter von „Silbernetz“ bei der Arbeit

© privat

Gemeinsame Sache in Berlin: Wege aus der Einsamkeit im Alter

Viele Senioren haben niemanden zum Reden. „Silbernetz“ holt sie aus dem Alleinsein und gibt Lebensmut.

Neujahr, 2 Uhr morgens, ein Telefon klingelt. Während Berlin noch im Nebel bereits verblasster Feuerwerke liegt, in deren flackerndem Licht sich nur zwei Stunden vorher zahlreiche Liebende, Geschwister oder Freunde ein frohes neues Jahr gewünscht haben, nimmt jemand den Anruf entgegen. In der Leitung erklingt vorsichtig die Stimme einer Frau Anfang 60.

Nach der zögerlichen Begrüßung erzählt sie von ihren Kindern, zu denen sie keinen Kontakt mehr hat, und von der fehlenden Beratung zu einem neuen Kühlschrank, den sie dringend bräuchte, bevor sie sich nach etwa 20 Minuten verabschiedet und sagt, dass Einsamkeit nichts mit der Jahreszeit zu tun habe, dass sie immer da sei.

Es ist nur einer von etwa 30 anonymen Anrufen, die täglich bei der Berliner Organisation Silbernetz von Menschen jenseits des 60. Lebensjahres eingehen. Um Sorgen zu teilen, einen Rat einzuholen oder einfach um die eigene Stimme mal wieder zu hören. Seit der Gründung im September vergangenen Jahres wurden nunmehr über 6 500 Gespräche geführt.

„Das Telefon gibt die Möglichkeit, große Nähe zu erzielen und gleichzeitig maximale Distanz zu wahren“, erzählt Elke Schilling, die Initiatorin von Silbernetz, das in Kooperation vom Humanistischen Verband Berlin Brandenburg und dem Silbernetz e.V. betrieben wird.

Gleich mehrere berufliche als auch persönliche Erfahrungen ebneten die Idee einer Anlaufstelle für vereinsamte alte Menschen in Berlin. So arbeitete die 74-Jährige bereits selbst als Telefonseelsorgerin und war außerdem acht Jahre lang die Vorsitzende der Seniorenvertretung Berlin-Mitte.

Ein Grund für das Weiterleben

„Schon damals hatte ich einen Anruf, der mich nachdenklich gestimmt hat“, sagt Schilling. Da hatte ihr ein 85-jähriger Mann anvertraut, dass die Reihen um ihn herum leer geworden seien. „Anschließend bat er mich, ihm einen Grund zu nennen, warum er noch weiterleben sollte“.

Ein weiteres einschneidendes Erlebnis hatte sie dann direkt in der Nachbarschaft. Hier hatte sie ebenfalls einem älteren Herrn ganz unverbindlich generelle Hilfe bei Bedarf angeboten. Die hatte er jedoch freundlich, aber bestimmt abgelehnt. „Drei Monate später hatte ich dann Fliegen in meiner Wohnung und musste mit ansehen, wie er tot aus seiner Wohnung getragen wurde“, so Schilling. Dieses Erlebnis habe sie wachgerüttelt: „So etwas darf einfach nicht passieren.“ Der entscheidende Impuls kam dann aber durch einen Kriminalroman von Minette Walters, der keinen passenderen Titel hätte tragen können: Der Nachbar.

Der brachte sie auf die Idee einer Telefonkette. Durch eine ausgiebige Recherche erfuhr Schilling dann von der Silverline Hotline und reiste kurzerhand nach London, um sich vor Ort einen persönlichen Eindruck vom britischen Vorbild zu machen.

Callcenter hatte sie bis dahin nur mit übergriffigen und zudringlichen Gesprächen verbunden. Oder mit Werbung. „Dort habe ich Menschen gesehen, die mit Begeisterung ihrer Arbeit nachgegangen sind, die nach den Gesprächen glühende Wangen und ein Lächeln im Gesicht trugen“, so Schilling, die außerdem Vorstand vom gleichnamigen Verein ist.

Inzwischen umfasst ihr eigenes Team 20 Mitarbeiter. Darunter arbeiten sieben fest in der Geschäftsstelle und vierzehn abwechselnd an den zwei Telefonen, die täglich von 8 bis 22 Uhr besetzt sind. Für das Silbertelefon kooperiert Silbernetz außerdem mit den Jobcentern Lichtenberg und Pankow, denn hier telefonieren nur Langzeitarbeitslose oder schwerbehinderte ältere Menschen, denen sonst häufig eine Festanstellung verwehrt bleibt. Für Schilling eine „Win-win-Situation“.

Ein langfristiger Weg aus der Einsamkeit

Neben der Hotline gibt es außerdem ehrenamtliche Mitarbeiter, die einem festen Gesprächspartner zugeteilt werden, mit dem sie dann regelmäßig einmal die Woche telefonieren. So soll langfristig vereinsamten Älteren der Weg aus der Isolation gebahnt werden. Die Gespräche, die immer anonym sind, dauern dabei zwischen einer Minute und anderthalb Stunden. So kann es auch mal vorkommen, dass sich jemand nur nach der nächsten Bushaltestelle erkundigt.

Dennoch steckt fast immer ein Leiden dahinter. Mitunter auch eins, das nicht behoben werden kann, erklärt Schilling. „Selbst wenn die Menschen eine Stunde lang Kontakt mit anderen Menschen haben, sind sie meist die restlichen 23 allein. Deshalb rufen sie bei uns an

Doch es gibt auch viele Momente, die ermutigen. So bedanken sich Gesprächspartner häufig für das offene Ohr: „Schön, dass ihr da seid – das hören wir sehr oft“, verrät sie außerdem mit einem breiten Lächeln. Statistisch hegen in Deutschland ein Drittel aller Menschen über 60 gelegentlich Einsamkeitsgefühle. Zwar gibt es laut Schilling und ihren Kollegen in der Hauptstadt viele Angebote für Senioren. Doch fehlt es hier an niedrigschwelliger Information, sodass viele Menschen häufig nicht mal von geplanten Veranstaltungen in ihrem Bezirk erfahren.

Berlin könnte ihrer Meinung nach noch mehr für die ältere Generation tun. Und auch was die kieznahen Angebote betrifft, sieht Julia Goldstein – Projektleiterin bei Silbernetz – noch Entwicklungspotenzial: „Das ist natürlich eine Herausforderung für Berlin. Und auch wenn sich da schon einiges bewegt, so reicht das leider noch nicht aus“.

Am Aktionstag für ein schönes Berlin „Gemeinsame Sache“ am 16. September hat Silbernetz die Bepflanzung und Verschönerung des Innenhofs geplant. Der soll vor allem den Mitarbeitern nach den Gesprächen als Erholungsort dienen. Außerdem sind Spenden für ein geplantes Graffiti willkommen.

Ein viel größeres Vorhaben plant Silbernetz dann aber für die Zukunft: So wünschen sie sich schnellstmöglich eine 24-Stunden-Hotline an 365 Tagen des Jahres. Dies konnte zwar schon über die Weihnachtsfeiertage und Neujahr gewährleistet werden, dennoch bedarf es hierfür noch weiterer Organisation und Unterstützung.

Auch der Aufbau des Angebots in anderen Bundesländern ist geplant. „Die Nachfrage ist so viel größer, als wir sie derzeit stillen können“, bedauert Schilling. Dennoch schaut sie optimistisch in die Zukunft und freut sich, mit ihrem Projekt ein bisher einmaliges Vorbild im deutschsprachigen Raum zu sein.

www.silbernetz.org, Tel. 0800 470 80 90

Merle Collet

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