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Einblick in "Die Kleine Philharmonie" in Wilmersdorf.

© Henning Kreitel

Gegen das Kiezkneipensterben: Darauf noch’n Bier

Der Autor Robert von Lucius und der Fotograf Henning Kreitel haben Berliner Kiezkneipen porträtiert. Ausgewählt wurden sie nach zwei Kriterien.

Jung und Alt sitzen in der Schöneberger Kneipe „Leuchtturm“ Abend für Abend eng zusammen. Unter ihnen Anwälte, Lehrer, Studenten, Drucker, ab und zu wird Selbstgemachtes der Gäste verkauft, wie Leberwurst oder Ingwerschnaps. Schon der Dramatiker Heiner Müller suchte die Kneipe im Crelle-Kiez auf.

Besonders beliebt ist der Kickertisch, regelmäßig gibt es Turniere mit einem Leuchtturmanhänger als Wanderpokal. Der „Leuchtturm“ ist einer der Orte, deren Geschichte sich in einem Buch mit Porträts von West-Berliner Kiezkneipen nachlesen lässt.

„Oft sind es dieselben Leute, die teilweise schon seit Jahrzehnten in ihre Stammkneipen gehen“, erzählt Robert von Lucius, Journalist und Autor des Buches. „Es gibt Freundesgruppen, Alleinlebende oder diejenigen, die sich zu Hause nicht mehr so viel zu erzählen haben und in der Kneipe einen erweiterten Kreis an Großfamilie finden.“ Die eine Berliner Kneipe gibt es für von Lucius nicht, dafür sei die Vielfalt zu groß. „Die meisten sind ein Treffpunkt für die Nachbarschaft, hier tauscht man sich aus, hilft sich gegenseitig.“

Insgesamt 16 Trink-Biotope haben er und der Fotograf Henning Kreitel in ihrem Buch „Noch’n Bier?“ porträtiert – Hommagen an Kneipen in Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg, Friedenau, Kreuzberg und Neukölln verfasst. „Unsere Kriterien waren erstens Beständigkeit, sprich die Kneipen sollten mindestens 30 Jahre alt sein, und zweitens Bier vom Fass anbieten“, erzählt von Lucius.

Der ehemalige „FAZ“-Korrespondent lebt seit seiner Pensionierung vor gut vier Jahren wieder in seiner Geburtsstadt Berlin, kurz nach seinem Rückzug kam die Anfrage des Mitteldeutschen Verlages, eine Fortsetzung des ersten Bandes „Uff’n Bier“ über Kneipen nördlich der Spree zu schreiben. Kreitel war als Fotograf bereits in das erste Kneipenbuch involviert, allerdings war die Autorin Hanne Walter für Teil zwei verhindert. „Ein perfekter Zeitpunkt und Anlass für mich, Berlin neu kennenzulernen und zu erkunden“, sagt von Lucius.

So viele Eckkneipen wie Ampeln

Einst befanden sich an Berliner Straßen fast so viele Eckkneipen wie Ampeln, erzählt der 70-Jährige. Hauptsächlich Arbeiter suchten sie auf, tranken gemeinsam Bier und entflohen für ein paar Stunden ihren Arbeits- und Lebensrealitäten. Mittlerweile sind viele Kneipen Läden, Cafés, Bars und Restaurants gewichen, doch die Kiez-Kneipen gibt es nach wie vor. Anstatt vor Laptops zu sitzen oder Geschäftstelefonate zu führen, verbringen die Gäste ihre Zeit dort (meist) beim Bier in Gruppen oder alleine.

Schach im Kneipenkollektiv "Straßenbahn" in Friedenau.
Schach im Kneipenkollektiv "Straßenbahn" in Friedenau.

© Henning Kreitel

Jeder ausgewählten Kneipe haben von Lucius und Kreitel zwischen acht und zehn Seiten gewidmet. Auffällig ist: Kaum einer der porträtierten Gäste schaut auf sein Smartphone, es liegen auch nicht viele Geräte auf den Tischen. Stattdessen sieht man die Besucher Schach spielen, miteinander lachen, rauchen oder, wie in der Kreuzberger Jazz-Kneipe „Yorckschlösschen“, mit der Gitarre auf dem Tisch musizieren.

Von gediegen bis punkig

Zu jeder Kneipe findet sich in dem Bändchen ein Steckbrief in Form eines Bierdeckels mit allen wichtigen Informationen. So erfährt der Leser, dass die Schöneberger „Möve im Felsenkeller“ ganz ohne Musik auskommt und noch dazu rauchfrei ist, das Kreuzberger „Schlawinchen“ nur ein Fassbier anbietet, aber dafür noch offen hat, wenn andere Kneipen schon längst zu haben, oder die „Straßenbahn“ in Friedenau die älteste als Kollektiv geführte Kneipe Berlins ist.

Ihre Typologie umfasst gutbürgerliche, gediegenere Kneipen wie das „Wirtshaus Wuppke“ in Charlottenburg ebenso wie den punkigeren „Zum Goldenen Hahn“ in Kreuzberg. „Es gab auch eine Anzahl an Kneipen, die gepasst hätten, die uns allerdings zu sauber, zu teuer, zu touristisch waren oder deren Speiseangebot zu groß war“, sagt Robert von Lucius.

Kickern „Bei Schlawinchen“ in Kreuzberg.
Kickern „Bei Schlawinchen“ in Kreuzberg.

© Henning Kreitel

Bei der knapp viermonatigen Arbeit für das Buch ist das Fotografen-Autoren-Gespann strategisch vorgegangen: Zunächst erstellten die beiden eine Liste an Kneipen, die sie auf ihre Kriterien hin prüften, und gingen nur auf ein Bier vorbei. Gefiel ihnen die Kneipe, folgte ein zweiter Besuch, bei dem sie sich und ihr Anliegen zu erkennen gaben. „Die waren in der Regel aufgeschlossen und nett, wir haben uns mit den Wirten und Kellnern unterhalten, die uns wiederum ihren Stammgästen vorstellten.“

Heute gehen mehr jüngere Menschen in Kneipen

Um die Kneipen-Atmosphäre möglichst authentisch wiederzugeben, hat Henning Kreitel mit dem vorhandenen Licht gearbeitet und auf zusätzliche Beleuchtung verzichtet. Er verspüre eine gewisse Melancholie, schreibt der Fotograf im Nachwort, denn es gebe immer weniger Kneipen in Berlin. Auch sie könnten sich die steigenden Mieten oftmals nicht leisten.

„Es gibt sicher Veränderungen, aber ich neige nicht dazu, zu sagen, früher war alles besser“, sagt von Lucius. „So gehen auch jüngere Menschen mittlerweile in Kneipen, und das freut die Besitzer, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Eine Wirtin sagte mal, die Jungen sind pflegeleichter und interessanter im Gespräch.“

Das „Narkosestübchen“ am Rathaus Schöneberg musste schließen

Eine der porträtierten Kneipen hat bisher schließen müssen: Das legendäre „Narkosestübchen“ um die Ecke vom Rathaus Schöneberg schloss nach dem Tod des Besitzers. Neben seinem Stammpublikum kamen hier auch Scharen angehender Juristen vorbei, die nach ihren Staatsexamensprüfungen im nahe gelegenen juristischen Prüfungsamt zum Feiern in die Kneipe einfielen.

Kleine, poetische Einblicke geben von Lucius und Kreitel in „Noch’n Bier?“. Die 160 Seiten sind voller Anekdoten über die traditionellen Orte der Berliner Trinkkultur, die wenig mit den hippen Bars in Mitte oder Neukölln gemein haben. Höchste Zeit, mal wieder in der Kneipe um die Ecke vorbeizuschauen – vielleicht trifft man ja auch den Nachbarn, dem man im Treppenhaus sonst nur zunickt.

Robert von Lucius/ Henning Kreitel: Noch’n Bier? Alte Berliner Kneipen in Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg, Friedenau, Kreuzberg und Neukölln. Mitteldeutscher Verlag, 160 S., 12,95 Euro

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