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Auf der Suche nach Heimat.

© privat

Geflüchtete in Berlin: Hinter jeder Flucht steht eine Geschichte

Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung dokumentiert die Geschichten von Menschen, die flüchten mussten – und warum für viele von ihnen die Reise nicht enden will.

Was eigentlich bedeutet der Begriff Heimat für jene, die ihr Zuhause verloren haben? Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung will das herausfinden und sucht für ihr Dokumentationszentrum am Askanischen Platz noch Fluchtberichte und Lebensgeschichten von Vertriebenen und Geflüchteten.

Und nicht nur das: Auch Tagebücher, Briefe, Fotos, Zeichnungen und sonstige Dokumente sind gern gesehen. Mithilfe der Zeitzeugenberichte und Dokumente soll ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Vorfahren nicht vergessen werden. Der Tagesspiegel stellt drei dieser Fluchtgeschichten vor.

Ric Schachtebeck (*1952)

Als Ric Schachtebeck das erste Mal nach seinen Wurzeln forscht, hat er bereits ein halbes Jahrhundert gelebt. Und die Suche danach führt ihn in die polnische Provinz. Genauer noch: zum früheren Bauernhof seiner Großeltern nahe der Stadt Debogórzyn – der nur noch in Teilen besteht. Erinnerungen werden wach in ihm an Erzählungen seiner Mutter: der Großvater, der die Ernte reinholt; das Vieh, das auf der Weide grast. Hier ist seine Mutter aufgewachsen, hier haben seine Eltern geheiratet, hier wurden seine Großeltern ermordet.

Schachtebeck selbst hat erst mit 30 Jahren realisiert, dass er ein Sohn von Flüchtlingen war, sagt er. Heute, mit 65 Jahren, sitzt er in seiner Altbauwohnung in Charlottenburg und weiß, dass es besser ist über das Vergangene zu sprechen, als es seinen Eltern gleichzutun: „Sie haben versucht, die Flucht durch Schweigen zu überwinden.“

Als Deutschland im September 1939 Polen überfällt, marschieren neben Wehrmachtssoldaten auch Verwaltungsbeamte wie Ric Schachtebecks Vater, der überzeugte Nationalsozialist Hans Schachtebeck, ein. Der soll in der Gegend eine Kreisverwaltung mitaufbauen. Ende 1941 lernt er seine künftige Frau Elisabeth kennen. Sie verlieben sich und heiraten im April 1942. Sechs Wochen später wird er von der Armee eingezogen. 1945 verlässt Elisabeth Schachtebeck die Heimat.

Ric Schachtebeck. Seine Mutter flüchtete im Januar 1945 aus den ehemaligen Ostgebieten.
Ric Schachtebeck. Seine Mutter flüchtete im Januar 1945 aus den ehemaligen Ostgebieten.

© Thilo Rückeis

Doch ihre Flucht endet schon nach zehn Tagen im Schneegestöber. Russische Soldaten nehmen sie fest, missbrauchen sie und halten sie für sechs Monate gefangen. Zurück bleiben ihre Eltern; die Mutter wird von polnischen Landarbeitern erschossen, der Vater zu Tode gefoltert. Elisabeth und Hans Schachtebeck sehen sich im April 1946 in Hildesheim wieder. Sie leben zunächst in einer Flüchtlingsbaracke, wo 1947 Tochter Heidrun geboren wird, fünf Jahre später, mittlerweile leben sie im niedersächsischen Bissendorf, kommt Sohn Ric zur Welt.

Schachtebeck erzählt, dass seine Mutter vom Krieg traumatisiert war. Über die Flucht habe sie kaum ein Wort verloren, nur über die Heimat sprach sie: „Sie hat darüber mit großer Sehnsucht und Traurigkeit gesprochen. Diese Traurigkeit spüre ich heute manchmal noch in mir.“

Nach dem Tod seiner Mutter 2001 beginnt er mit der persönlichen Vergangenheitsbewältigung. Schachtebeck, der als Bühnenbildner arbeitet, versucht seine Familiengeschichte zu rekonstruieren, fährt 2002 nach Polen und spricht dort mit einem Bauern, der seine Mutter kannte. Nach dem Tod seines Vater 2009 findet er zudem zahlreiche Dokumente, die er der Stiftung übergibt. Schachtebeck sagt: „Je mehr ich mich damit auseinandersetze, desto mehr merke ich, wie sehr mich die unbewältigte Vergangenheit meiner Eltern geprägt hat.“

Eine Flucht aus Bosnien

Auf der Suche nach Heimat.
Auf der Suche nach Heimat.

© privat

Begzada Alatovic (*1962)

Auch mehr als 25 Jahre danach fällt es Begzada Alatovic schwer zu erzählen, was ihr damals, im Frühjahr 1992, zustieß. Nicht zuletzt deshalb, weil die Jahre, die ihrer Flucht aus der bosnischen Heimatstadt Modrica vorangingen, glückliche waren. Als sie 1962 dort geboren wird, gehört es noch zur „Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina“, einer von sechs Teilrepubliken Jugoslawiens. Sie wächst auf einem Bauernhof auf, wird mit 18 Jahren Mitglied in der Kommunistischen Partei, später geht sie als Abgeordnete in das Parlament in Sarajevo. Doch schon bald verschärft sich die Lage in Jugoslawien, das ab 1990 zerfällt: Erst erklärt Slowenien die Unabhängigkeit, dann Kroatien, dann Bosnien. Jedes Mal bricht ein Krieg aus.

Bosnien und Herzegowina ist ein kompliziertes Land: Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung 1992 leben Serben, Kroaten und muslimische Bosnier zusammen. Überwiegend friedlich, sagt die bosnische Muslima Alatovic: „Religion und Ethnie haben für uns keine Rolle gespielt.“

Das ändert sich über Nacht im April 1992, als serbische Milizen Bosnien und ihre Heimatstadt Modrica angreifen. Alle Frauen und Kinder müssen die Stadt in Richtung eines Nachbarorts verlassen. Alatovics Mann, ein Polizist, bleibt zurück. Am 19. April erfährt sie, dass er erschossen worden sein soll. Gesicherte Informationen hat sie jedoch nicht. Nachdem die jugoslawische Armee Luftangriffe auf Modrica fliegt, fliehen sie und ihr dreijähriger Sohn mit dieser Ungewissheit nach Kroatien. „Wir liefen durch Felder und neben uns fielen Bomben.“ Über Kroatien gelangen sie in ein ungarisches Flüchtlingslager, wo sie für neun Monate bleiben. Im April 1993 erreichen sie Berlin.

Begzada Alatovic. Die Bosnierin floh während des Bürgerkriegs 1992.
Begzada Alatovic. Die Bosnierin floh während des Bürgerkriegs 1992.

© Doris Spiekermann-Klaas

Seither begleiten sie die Nachwirkungen der Flucht – die manchmal nur schwer zu ertragen sind. 1998 besucht sie erstmals eine Therapie, anfangs in einer Gruppe. Zwei Jahre habe es gedauert, bis sie über ihre Erlebnisse sprechen konnte. Heute noch ist es schwierig: „Es hängt von meiner Tagesform ab, wie viel ich weine. Manchmal habe ich keine Träne mehr.“

1998 ist auch das Jahr, als sie das erste Mal wieder nach Bosnien zurückkehrt – zur Beerdigung ihres Mannes. Die Schwiegereltern hatten seine Leiche in einem Massengrab unter einem Schulhof gefunden. Bleiben will sie nicht. Nichts sei mehr so wie früher gewesen.

Stattdessen engagiert sie sich in Deutschland. Sie betreut Flüchtlingsfrauen und hilft ihnen bei Behördengängen. Seit 2006 leitet sie außerdem den Interkulturellen Garten Rosenduft auf dem Gleisdreieck. Zusammen mit anderen Frauen pflanzt sie dort Obst und Gemüse und hat mit den bosnischen Okraschoten ein Stück Heimat in ihr eigenes Beet geholt. Alatovic sagt: „Im Garten lässt man alle anderen Gedanken raus, einfach so.“

Aus Angst vor den Taliban

Samiullah Rasouli (*1999)

Als Samiullah Rasouli im Oktober 2015 Deutschland erreicht, hat er eine 40-tägige Flucht aus Afghanistan hinter sich. „Ich habe keine guten Erinnerungen an Afghanistan“, sagt der 18-Jährige, „die einzig guten Erinnerungen sind die an meine Familie.“ Gut zweimal im Monat hat er über Skype Kontakt zu ihr, wenn denn die Verbindung funktioniert. Die sei in letzter Zeit häufiger von den Taliban zerstört worden.

Rasouli stammt aus Ghazni, einer Großstadt knapp 150 Kilometer südlich von Kabul. Dort ist er aufgewachsen und fünf Jahre zur Schule gegangen. Als sein Vater stirbt, muss er die Schule abbrechen und Geld verdienen. Rasouli verkauft Kleidung für Kinder. Das tut er auch, als Mitte 2015 vor seinen Augen ein Sicherheitsbeamter von Talibankämpfern umgebracht wird. Vor der Polizei soll er darüber aussagen, doch die Taliban setzen ihn unter Druck, zu schweigen. „Wenn ich eine Aussage gemacht hätte, hätten sie mich umgebracht.“

Auf der Suche nach Heimat.
Auf der Suche nach Heimat.

© privat

Fortan bleibt er zu Hause und traut sich nicht mehr vor die Tür. Mit einem Cousin entschließt er sich zu fliehen. Seine Familie bezahlt die Schlepper, die ihn über Pakistan in den Iran, von dort, über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich schließlich nach Deutschland bringen. Am 27. Oktober erreicht er München und wird direkt nach Berlin geschickt.

Als er in Berlin mit anderen Flüchtlingen ankommt, erhält er ein S-Bahn-Ticket und soll ohne Begleitung in eine Flüchtlingsunterkunft nach Alt-Tegel gelangen. Dort vergehen sechs Monate und nichts passiert. Er gelangt in eine andere Unterkunft am Alexanderplatz, kann endlich einen Willkommenskurs besuchen und Deutsch lernen.

Seit ein paar Monaten lebt er in Neukölln. Es sei ihm dort zu laut, erzählt er, er bevorzuge die Ruhe des Tegeler Sees. Nach seiner Ausbildung will er das Abitur nachholen, anschließend Politik studieren und dann vielleicht zurückkehren. Samiullah Rasouli sagt: „Es gibt in Afghanistan seit 50 Jahren Krieg. Ich hoffe, irgendwann meinen Beitrag dazu leisten zu können, dass das nicht so bleibt.“

Die Stiftung freut sich über Zusendungen an die Adresse: Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung; Mauerstraße 83/84; 10117 Berlin. E-Mail-Zuschriften an: geschichten@sfvv.de

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