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Und am Ende ist ein Mensch tot. Als die Polizisten 2016 an die Heerstraße eilten, wussten sie nicht, dass in der Gegend gerade ein gesuchter Islamist rumläuft.

© Julian Stähle/dpa

Gefährder in Berlin: Streifenpolizisten wissen nicht, wo Islamisten wohnen

Klingeln sie bei einem gewöhnlichen Ruhestörer oder bei einem potenziell gewalttätigen Gefährder? Berlins Polizisten sind da in der Regel ahnungslos. Der Grund: eine Datenlücke. Daran gibt es jetzt Kritik.

Sicherheitsbehörden gehen in Berlin derzeit von mehr als 70 islamistischen Gefährdern aus. Wer sie sind, ist geheim – selbst für die Polizei. Denn wie dem Tagesspiegel bestätigt wurde, kennen Polizisten nicht einmal den Gefährderstatus der Extremisten, die in ihren Revierabschnitten leben. Der Grund: Es gibt keinen Datenaustausch mit dem Landeskriminalamt.

Es ist eineinhalb Jahre her, dass Rafik Y. an einem Donnerstag um 8.53 Uhr und 59 Sekunden seine elektronische Fußfessel abnimmt und in der bundesweit für alle Fußfesseln zuständigen „Gemeinsamen Überwachungsstelle der Länder“ (GÜL) in Hessen Alarm auslöst. Eine Stunde später ist der Islamist tot – erschossen von einem Polizeibeamten, nahe der Wohnung von Rafik Y. im Spandauer Ortsteil Wilhelmstadt. Rafik Y. hatte eine 44 Jahre alte Polizistin auf der Straße mit einem Messer angegriffen, worauf ihr Kollege die Waffe zog und abdrückte. Die Beamtin wurde schwer verletzt, kam auf die Intensivstation.

Auch Amri war ein Gefährder

Der Islamist hatte bis zu seiner Tat bereits eine mehrjährige Haftstrafe abgesessen, das Bundeskriminalamt hatte ihn als „Gefährder“ eingestuft. Unter dem polizeiinternen Begriff sind Personen gelistet, bei denen aufgrund bestimmter Tatsachen davon ausgegangen wird, dass sie Terroranschläge begehen werden. Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz, war auch einer.

Nachdem Rafik Y. seine Fußfesseln gelöst hatte, suchte die Polizei nach ihm. Währenddessen wurde die Beamtin – die später verletzt wurde – zu einem Einsatz gerufen, weil ein Mann Passanten auf der Straße bedrohte. Später stellte sich heraus: Es war Rafik Y. Weder die Beamtin noch ihr Kollege, der ihn erschoss, wussten, dass sie bei ihrem Einsatz möglicherweise auf einen Gefährder treffen könnten. Dafür fehlt der Polizei der Zugriff auf die Daten des Landeskriminalamts (LKA). Ob Streifenpolizisten bei ihren Routineeinsätzen an die Tür eines Schwarzfahrers klopfen oder eines radikalen Islamisten, können Beamte demnach nie wissen. Das hat die Polizei auf Nachfrage dem Tagesspiegel bestätigt.

Y. hatte zehn Jahre den Gefährderstatus

Rafik Y. trat bereits 2002 in Berlin das erste Mal als Tatverdächtiger in Erscheinung. Den Gefährderstatus bekam er bereits am 29. November 2005 – gut zehn Jahre vor der Messerattacke auf die Polizistin. Hätte der Angriff durch Datenaustausch verhindert werden können?

So weit will der SPD-Politiker Tom Schreiber nicht gehen. Er hat sich mit dem Fall mehrmals auseinandergesetzt. Aus Schreibers aktueller parlamentarischer Anfrage geht auch hervor, dass Polizisten keine spezielle Schulung im Umgang mit islamistischen Gefährdern bekommen. „Es werden vielfältige Situationen möglicher Szenarien trainiert, ohne explizit auf ,islamistische Gefährder‘ in diesem Zusammenhang abzustellen“, heißt in der Antwort des Senats.

Schreiber: "Wir müssen dieses Problem aus dem Weg schaffen"

Schreiber kritisiert den fehlenden Datenaustausch zwischen der Polizei und der LKA-Abteilung Staatsschutz, die die Ermittlungen gegen politisch motivierte Straftäter führt. Mit Blick auf die Eigensicherung der Polizisten lasse die Fürsorgepflicht des Dienstherrn laut Schreiber „zu wünschen übrig“. Der 38-Jährige nennt ein Beispiel: „Man muss sich das einmal vorstellen: Streifenpolizisten werden wegen Ruhestörung zu einer Adresse gerufen. Die Beamten klopfen an die Tür eines Gefährders, ohne es zu wissen. Wenn dieser durch den Spion guckt und zwei bewaffnete Beamte sieht, könnte er in Panik geraten, sich ertappt fühlen und zur Waffe greifen.“ Schreiber fordert deshalb eine politische Diskussion darüber: „Wir müssen dieses Problem aus dem Weg schaffen.“

Die Meinung Schreibers teilt größtenteils auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin: „Die einzelnen Abschnitte sollten wissen, wenn in ihrem Bereich Gefährder leben, sodass sie bei Einsätzen auf ihr Gegenüber vorbereitet sind. Insofern ist jede Information Gold wert und kann der Eigensicherung dienen“, sagt GdP-Sprecher Benjamin Jendro. Zugleich betont er aber, dass bei Routineeinsätzen hinter jeder Tür Gefahr lauern könne.

Polizei: "Gefahr ist übersichtlich"

Volle Rückendeckung bekommt SPD-Politiker Tom Schreiber für seine Kritik am mangelnden Datenaustausch aber nicht von allen Gewerkschaften. Der Berliner Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Bodo Pfalzgraf, hält nichts davon, den Gefährderstatus auf jeden Funkwagen zu spiegeln. „Diese Information könnte die Beamten im Einzelnen unterschiedlich stark beeinflussen. In der Konsequenz müsste ja bei jeder Ruhestörung das SEK anrücken – und das wäre sicher nicht richtig“, sagt er.

Winfried Wenzel, Sprecher der Polizei Berlin, betont, dass es bisher keinen solcher Zwischenfälle mit Gefährdern bei Routineeinsätzen gegeben habe: „Die Gefahr ist übersichtlich.“

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