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Das Kindertransport-Denkmal an der Friedrichstraße „Züge ins Leben – Züge in den Tod“ von Frank Meisler

© John Macdougall/AFP

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus: Züge in den Tod, Züge in ein Leben ohne Eltern

An die Kindertransporte in die Gaskammern, die vor 80 Jahren begannen, erinnern dieser Tage auch Prinz Charles, Petra Pau – und Überlebende in Berlin.

Sie sind nun 80 Jahre her, die Kindertransporte. Einige der damals als Baby, Kleinkind oder Jugendlicher geretteten Menschen leben noch, über den Globus verstreut. Mehr als 15 500 jüdische Säuglinge, Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre haben dank der Rettungsaktion „Kindertransporte“ zwischen dem 30. November 1938 und dem 31. August 1939 überlebt. An die außerhalb Nazi-Deutschlands initiierten Rettungsaktionen erinnert die Kindertransport-Organisation Deutschland jetzt zwei Jahre lang bis zum letzten Tag eines – missglückten – Transports aus Prag am 1. 9. 1939. Da brauchte zum Schluss die Wehrmacht die Züge, 250 Kinder mussten aussteigen, sie überlebten nicht.

Hier ein Kalender des Gedenkens, es ist zum großen Teil von Berlin aus initiiert und koordiniert. Lisa Sophie Bechner, die Vorsitzende der Berliner Kindertransport-Organisation Deutschland (KTO e. V.), hat zum Erinnern eine kleine Historie für den Tagesspiegel zusammengetragen.

15. NOVEMBER, BERLIN/LONDON

Geplant ist heute ein Treffen an alter Stätte, im rettenden Erstaufnahmeland, das auch viele Kinder aus Berlin vor den Gaskammern bewahrte. Der britische Abgeordnete und Kindertransport-Überlebende Lord Alfred Dubs und Barbara Winton, die Tochter des damaligen legendären Retters Sir Nicholas Winton, empfangen im „Friend's House“ in London, das den Quäkern gehört, Zeitzeugen.

Vor genau 80 Jahren gab es erste Gespräche auf Regierungsebene mit dem damaligen Premierminister des Vereinigten Königreichs, Arthur Neville Chamberlain, zur Aufnahme der Kinder aus Nazi-Deutschland. Die Briten erinnern auch an den erste Transport mit Berliner Kindern, meist aus jüdischen Waisenhäusern. Sie verließen vom Anhalter Bahnhof aus am 1. Dezember 1938 die damalige Reichshauptstadt. Die Kinder waren von ihren Eltern auch am Schlesischen Bahnhof, am Alexanderplatz, Friedrichstraße, Lehrter Bahnhof, Bahnhof Charlottenburg in den Zug gesetzt und zunächst nach Großbritannien geschickt worden. Die Nazis wollten Deutschland „judenfrei“ bekommen. Die erwachsenen, ehrenamtlichen jüdischen Begleiter der Kinder gingen zurück, in den Tod.

Mit dabei ist heute auch Lisa Sophie Bechner aus Berlin, die herausfand, wie das damals war. Da debattierten am 15. November folgende Herrschaften: Viscount Samuel, Viscount Bearsted, der Chef-Rabbiner Joseph Hertz, Neville Laski, Lionel de Rothschild und Chaim Weizmann, der Gründervater Israels, die Chamberlaine drängten, doch bitte Kinder im Alter bis zu 17 Jahren einwandern zu lassen.

So viele Anträge kamen herein, dass das „Refugee Childrens Mouvement“ (Kinder-Flüchtlingshilfe) gegründet wurde, von Norman Bentwich und seiner Frau Mami, mit Vertretern der Quäker. In der Parlamentsdebatte am Abend wurde keine Höchstgrenze zur Flüchtlingsaufnahme festgelegt, auch weil Innenminister Sir Samuel Hoare das ablehnte.

Die britische Regierung stimmte der Einreise der Flüchtlingskinder zu, deren Unterhalt selbst oder durch andere Personen geregelt war. Erst ab März 1939 wurde die Einreise an eine Garantiesumme von 50 Pfund (1200 Reichsmark) gebunden, und es musste einen Garanten geben, der die Bürgschaft für die möglichen Kosten zur Weiterreise übernahm. Um die Einreiseformalitäten zu vereinfachen, wurde in London ein spezielles Einreisedokument als Ersatz für einen Pass oder Visum für die Flüchtlingskinder hergestellt.

20. NOVEMBER, BEI PRINZ CHARLES

Der britische Thronfolger lädt einen Tag nach seinem 70. Geburtstag zu einem Empfang der Zeitzeugen der Kindertransporte. Am Gedenktag der königlichen Familie im St.-James’s-Palast werden 85 frühere Kindertransport-Kinder aus der ganzen Welt dabei sein, hochbetagt. Vor fünf Jahren waren es laut Lisa Sophie Bechner noch 150 NS-Überlebende.

21. NOVEMBER, HISTORIE ZUM HÖREN

Vor 80 Jahren starteten die Transporte von Bahnhöfen aus ganz Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei und Österreich. Nachdem es mit Schiffen und Zügen zunächst meist nach Großbritannien, aber auch in die Niederlande sowie nach Belgien, in die Schweiz ging, nahmen auch Irland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Palästina und die USA Kinder auf. Auch daran erinnert die historische Parlamentsdebatte im House of Commons in London von 18 bis 20 Uhr. Britische Parlamentsmitglieder wollen die historischen Texte der 50 Seiten umfassenden Parlamentsdebatte von damals verlesen.

2. DEZEMBER, PREMIERE IN ALLER WELT

Erstmals gibt es zeitgleiche Gedenkveranstaltung an den Kindertransport-Denkmälern des israelischen Künstlers und Überlebenden Frank Meisler in London (12 Uhr), Berlin, Gdansk, Hoek van Holland (13 Uhr) – sowie an den Gedenkstätten der britischen Bildhauerin Flor Kent in Wien und Prag. In Berlin wollen sich anlässlich der ersten Ankunft von Kindern im United Kingdom vor 80 Jahren auch die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Petra Pau (Linke) und der Gesandte der britischen Botschaft Robbie Bulloch beteiligen. In Berlin laden Bechner und Amnesty International Berlin zum öffentlichen Gedenken.

4. DEZEMBER, VERDIENSTORDEN

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ehrt Lisa Sophie Bechner für langjährige Verdienste um das Gedenken. Bechner bat den britischen Gesandten Bulloch, Petra Pau und Zeitzeugin Helga Heilbutt, sie zu begleiten. Bechner studiert jetzt auch wegen der Gedenkarbeit am Touro College Berlin, einer durch den Wissenschaftsrat in Deutschland akkreditierten privaten Hochschule mit Sitz in Berlin, im Master-Studiengang „Holocaust, Communication and Tolerance“ Das College ist selbstständiger Teil des jüdisch-amerikanischen Touro-Hochschulnetzwerks.

6. DEZEMBER, DIE BRITEN IN BERLIN

Von 18 bis 19.30 Uhr bittet der britische Botschafter Sir Wood zur festlichen Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestags der Rettung. Es wird auch zehn Jahre Berliner Denkmal in Mitte gefeiert, mit Zeitzeugen und Ehrengästen.

... UND IM NÄCHSTEN JAHR

Auch da wollen Buchläden Literatur auslegen, Radiosender planen Beiträge, zuletzt lief etwa die Kulturradio-Reportage „Frau Baruch aus dem Erdgeschoss“ des rbb-Redakteurs für Gesellschaft und Religion, Matthias Schirmer. Er war durch einen Zufall zwei Kindertransport-Schicksalen in dem Mietshaus, in dem er wohnt, auf die Spur gekommen (www.kulturradio.de). Der „Guardian“ hat am 6. November 2018 eine Serie mit Zeitzeugen gestartet. In vielen Schulbüchern und Studiengängen fehlt jegliches Gedenken.

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