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Bühne der Macht. Michael Müller hat mit der Berliner SPD nur 21,6 Prozent der Wählerstimmen erzielt. Parteiintern sind viele damit unzufrieden.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Gastbeitrag zur Berliner SPD: Von der Volkspartei zur Staatspartei

Wenn sich die SPD nicht radikal erneuert, wird sie mittelfristig nicht mehr gebraucht. Ein Essay des Berliner Fraktionschefs.

Mit 21,6 Prozent hat die SPD Berlin ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Ein Ergebnis, das in vielerlei Hinsicht infrage stellt, was die SPD heute ist und was sie sein sollte. Ihren Status als Volkspartei hat die SPD in vielen Teilen Berlins verloren, in Marzahn-Hellersdorf lag sie auf Platz vier, in manchen Gegenden an den Rändern Berlins war die AfD stärkste Kraft. Ich habe noch lange nicht alle Antworten auf das Wahlergebnis, aber manches war in den letzten Monaten doch spürbar.

Aus der Flüchtlingskrise des letzten Sommers ist ein Belastungstest für unsere Demokratie geworden – nicht, weil die Flüchtlinge uns wirklich überfordern würden, sondern weil in der Zeit der Re-Politisierung wieder die Bruchlinien unserer Gesellschaft zum Vorschein getreten sind. Es geht schon mindestens seit Anfang dieses Jahres nicht mehr um die Flüchtlinge, sondern um uns, darum, welches Land wir sein wollen – und welche Parteien dieses Land braucht.

Ich war in diesem Wahlkampf in vielen Kiezen Berlins unterwegs und habe wie alle Wahlkämpfer Hunderte von Gesprächen geführt. Berlin ist in seiner Vielfalt vergleichbar mit anderen deutschen Großstädten, wo sich quirlige Szenekieze mit Einfamilienhaus- oder ruhigen Wohngebieten mischen. Doch in allen Gegenden der Stadt fiel mir auf, wie komisch die SPD oft gesehen wird: In der ersten Minute nahmen die Leute einen nicht als den Sozi aus der Nachbarschaft wahr, sondern als Repräsentant des Staates.

Die SPD muss die Gesellschaft gerechter machen

Die SPD ist in den vielen Jahren der Regierungsverantwortung im Bund, aber auch in Berlin, von einer Volkspartei zu einer Staatspartei geworden. Klaus Wowereit hat es mit seiner menschlichen Art lange geschafft, diese Kluft zu überbrücken, im letzten Jahr ist uns das nicht genug gelungen. Die SPD darf nie Teil des Staatsapparats sein, sondern muss immer Teil der Gesellschaft sein. Die Basis der Partei versteht sich noch immer als größte Bürgerbewegung der Stadt, und dieses Verständnis, diese Haltung muss wieder deutlich werden. Unser Programm darf kein Nebenprodukt von Regierungslogik sein. Wir müssen die sein, die unsere Gesellschaft gerechter machen. Faule Kompromisse bei CETA, eine wirkungslose Mietpreisbremse und Erbschaftssteuern mit Ausnahmen für Superreiche gehören nicht zu dieser Haltung.

Die SPD muss immer auf der Seite der Bürger stehen – und einflussreichen Lobbys den Kampf ansagen. Wenn wir auch nur annähernd in den Ruch kommen, mit finanzstarken Eliten zu klüngeln, trifft das eine linke Volkspartei bis ins Mark. Ein Beispiel dafür, wie man es richtig macht, war der Kampf der SPD-Fraktion gegen immer mehr Spielhallen in der Stadt. Gegen den erheblichen politischen, juristischen und finanziellen Widerstand der Automaten- und Glücksspiellobby haben wir ein Spielhallengesetz in Berlin durchgesetzt. Viele Spielhallen in Berlin müssen jetzt wirklich schließen – und von den Bürgerinnen und Bürgern erhalten wir viel Zuspruch.

Volkspartei zu sein heißt, bis an die Ränder präsent zu sein. Damit meine ich ganz konkret die geografischen Ränder unserer Stadt, wo die AfD teils stärkste Kraft wurde – vielleicht auch, weil die Landespolitik sich zu oft mit den Innenstadtkiezen befasst und zu wenig Anbindung an das Lebensgefühl in Reinickendorf, Hellersdorf oder Französisch-Buchholz hat. Nehmen wir ein Quartier wie die Heerstraße Nord, in dem ich aufgewachsen bin: Der Staat hat sich zurückgezogen und Wohnungen verkauft. Es wurde nicht mehr investiert, dafür stiegen die Mieten, die Innenhöfe und Hauseingänge verfallen Jahr für Jahr ein bisschen mehr – und am Ende steigt die AfD. Kann uns das eigentlich überraschen?

Die Spaltung verläuft zwischen der politischen Blase und den Bürgern

Mit den Rändern meine ich aber auch die Ränder der Aufmerksamkeit: Die Politik feiert sich für das Bevölkerungswachstum, die boomende Wirtschaft und jährlich steigende Besucherzahlen in Berlin, für das Image der Stadt und die hippen Start-ups. Die Kehrseite des Erfolgs ist die Verdrängung von Normalverdienern aus der Innenstadt. Wenn im Fernsehen vom Boom die Rede ist, dann sehen die Leute nur die letzte Mieterhöhung, oder dass sich eine junge Familie kaum noch eine größere Wohnung in ihrem Kiez leisten kann. Es gab eine Spaltung zwischen der politischen Blase sowie der Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger.

Mit einiger Arroganz schauen nun manche Leute auf das Wahlergebnis und versuchen, die AfD den Ost-Berlinern unterzuschieben. Ich glaube, das ist falsch: Die Rechtspopulisten kamen auch in Spandau und Reinickendorf auf über 16 Prozent. Die Spaltungslinien dieser Stadt sind nicht mehr die zwischen Ost und West, sondern die zwischen Arm und Reich und vielleicht auch zwischen Innenstadt und Außenbezirken.

Eine weitere Spaltungslinie verläuft durch die Mitte der Gesellschaft: Es gibt auf der einen Seite kritische Akzeptanz, die wir in der Zeit der Konsolidierung des Landeshaushalts immer wieder erfahren haben. Auf der anderen Seite hat sich eine ablehnende Protesthaltung gebildet, mit Akteuren, die nur Verachtung für die Politik haben. Auf beiden Seiten müssen wir uns wieder Anerkennung erarbeiten, und zwar nicht, indem wir die Irrationalität der Populisten kopieren, sondern indem wir auf Augenhöhe für unsere Visionen kämpfen. Wir müssen für die Abgehängten und für die, die sich abgehängt fühlen, da sein. Dafür müssen wir unsere Stadt nicht mehr aus der Perspektive der Rathäuser, sondern wieder mit den Augen der Bürgerinnen und Bürger sehen.

Denn auch das hat der Wahlkampf gezeigt: Die Leute lassen sich ungern erklären, welche Parteien gut und welche böse sind. Weder der Alarmton, mit dem im linken Parteienspektrum vor der AfD gewarnt wurde, hat gewirkt, noch die Selbstdarstellung der CDU als letztes Bollwerk gegen ein „drohendes“ Rot-Rot-Grün. Man muss den politischen Gegner inhaltlich stellen, dieser Streit ist der Normalfall in der Demokratie – die Verteufelung anderer Parteien kann jedoch immer auch als Zeichen mangelnden Selbstbewusstseins interpretiert werden.

Ich hoffe, es klappt mit rot-rot-grün

Wir haben in der zurückliegenden Wahlperiode gelernt, dass die Bürger für anhaltenden Streit innerhalb einer Regierung und einer Koalition alle Beteiligten abstrafen. Der Wunsch nach einer stabilen Koalition, die ruhig und an Sachfragen orientiert arbeitet, war spürbar. Diese Stabilität könnte eine rot-rot-grüne Koalition in Berlin schaffen, wenn alle sich zurücknehmen und auf Augenhöhe verhandeln. Es ist kein Geheimnis, dass ich schon 2011 eine solche Konstellation für sinnvoll hielt und sie in meinem Heimatbezirk Spandau durchgesetzt habe. Ich hoffe, es klappt diesmal auch auf Landesebene.

Raed Saleh spricht sich in seinem Gastbeitrag für Rot-Rot-Grün aus - aber auch für eine radikale Erneuerung der SPD.
Raed Saleh spricht sich in seinem Gastbeitrag für Rot-Rot-Grün aus - aber auch für eine radikale Erneuerung der SPD.

© Paul Zinken/dpa

Rot-Rot-Grün kann erfolgreich sein, wenn es uns gelingt, eine Politik für die ganze Stadt zu machen. Unsere Aufgabe ist, nicht nur die zu vertreten, die die linken Parteien gewählt haben, sondern auch die mitzudenken, die sich durch diese Koalition nicht vertreten fühlen. Es würde die gesellschaftliche Spaltung und damit Populisten stärken, wenn wir scheinbar nur linke Politik in der Stadt machen. Deshalb müssen wir immer auch an die 48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger denken, die uns nicht gewählt haben. Diese versöhnende Version von Rot-Rot-Grün in der Hauptstadt könnte zugleich ein Signal für die Bundesebene sein. Mit progressiven Impulsen – zum Beispiel für Höchstlöhne für Manager, die Schließung von Steuerschlupflöchern für große Konzerne oder Höchstrenditen bei Wohneigentum – könnte die Berliner Koalition dieses Projekt auch inhaltlich unterfüttern.

Die SPD muss die linke Veränderungspartei sein

Für die SPD werden diese Aufgaben nicht leichter, denn sie kämpft zugleich um ihr Überleben als Volkspartei. Wenn sich die gesamte SPD – bundesweit – in Inhalten, Stil und Selbstverständnis nicht radikal erneuert, wird diese Republik sie mittelfristig nicht mehr brauchen. Wir müssen die linke Veränderungspartei sein, die die Mittelschichten und die Abgehängten repräsentiert. Bleiben wir stattdessen im Glaubwürdigkeitstief, dann wird der gesellschaftspolitische Teil der SPD von den Grünen und der sozial-ökonomische Teil von der Linkspartei geerbt. Gerade weil die SPD kein einzelnes Klientel oder ein enges Themenspektrum hat, kann sie nur als linke Volkspartei überleben.

In Berlin steht die SPD vor der Herausforderung, sich inhaltlich und strukturell zu erneuern und dabei zugleich geschlossen und regierungsfähig zu bleiben. Erneuerung heißt auch, dass wir die Themen angehen, die vielleicht nicht direkt mehrheitsfähig oder durchsetzbar sind, aber deutlich machen, was unsere Haltung ist. Dazu gehören für mich tiefgreifende Eingriffe in den Wohnungsmarkt genauso wie die Entlastung der Familien und eine Investitionsoffensive für ein lebenswertes Berlin. Vor diese Aufgabe haben uns die Berlinerinnen und Berliner am 18. September gestellt. Wir nehmen die Herausforderung an.

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Raed Saleh

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