zum Hauptinhalt
Knochenjob. Vor knapp 70 Jahren wurde das Skelett entdeckt, viele Geheimnisse hat es aber noch nicht preisgegeben.

© Thilo Rückeis

Frühgeschichte Berlins: Die Prinzessin ist ein Prinz - was ein Skelett über die Stadt verrät

Ein Jahrhunderte altes Skelett, gefunden in Britz, wird neu erforscht. Es liefert erstaunliche Erkenntnisse über die Ursprünge Berlins.

Es war einmal, vor langer, langer Zeit, fast anderthalb Jahrtausende muss es her sein.

Da starb dort, wo heute Neukölln liegt, ein Mensch, nicht alt, mehr ein Kind noch als ein Erwachsener.

Man hob eine Grube aus und bettete den jungen Leichnam hinein, die Füße nach Osten, den Kopf nach Westen, das Gesicht der aufgehenden Sonne entgegen, wie es Sitte war.

Einen Kamm gab man mit ins Grab, eine Glasschale, eine Tasche mit eisernem Verschluss. Dem Leichnam presste man eine Goldmünze zwischen die kalten Lippen, als Gabe für den Fährmann, der die Toten ins Jenseits rudert. Dann schüttete man die Grube zu.

Verrostet bis zur Unkenntlichkeit

Jahre vergingen, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Insekten fraßen das Fleisch des Leichnams, seine Kleidung löste sich auf, nur zwei bronzene Gewandschnallen blieben übrig, sie sackten zwischen die kahlen Knochen. Auch die Tasche zersetzte sich, allein ihr Verschluss blieb im Erdreich haften, verrostet bis zur Unkenntlichkeit, genau wie die Eisengeräte im Tascheninneren, ein Schlüssel vielleicht, eine Schere, ein Messer.

Zwischen den Kieferknochen ruhte die Goldmünze.

Und oben wuchs langsam Berlin.

Am 28. März 1951, einem Mittwoch kurz vor dem Osterwochenende, stießen Bauarbeiter beim Abtragen eines Lehmhügels im Neuköllner Ortsteil Britz auf etwas Hartes. Als sie vorsichtig weitergruben, entdeckten sie Knochen.

Die Männer waren dabei, den neuen Park am Buschkrug zu gestalten, an dessen südöstlichem Ende der Hügel lag, Blaschko- Ecke Buschkrugallee. Der Vorarbeiter verständigte umgehend das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte, dessen Mitarbeiter am Folgetag an der Fundstelle eintrafen. Zwei Skelette hatten die Arbeiter zu diesem Zeitpunkt freigeschaufelt, beigesetzt etwa zwei Meter voneinander entfernt, das eine deutlich besser erhalten als das andere.

Die Museumsleiterin. Marion Bertram ist die stellvertretende Direktorin des Museums für Vor- und Frühgeschichte.
Die Museumsleiterin. Marion Bertram ist die stellvertretende Direktorin des Museums für Vor- und Frühgeschichte.

© Thilo Rückeis

Gertrud Dorka, die Direktorin des Museums, ahnte schnell, dass der Fund ein besonderer war. Speziell die Beigaben im Grab des vollständigeren Skeletts ließen die Historikerin aufmerken: Die Gewandschnallen, die Glasschüssel, der Kamm, die Goldmünze – alles deutete auf ein Begräbnis der Merowingerzeit hin, 5. bis 6. Jahrhundert, an der Schwelle von der Antike zum frühen Mittelalter, eine notorisch unterbelichtete Epoche, die im Berliner Raum nur sehr wenige Spuren hinterlassen hat.

Ein paar Jahrzehnte zuvor, im Januar 1912, hatten Bauarbeiter etwa zwei Kilometer nördlich der jetzigen Fundstelle das berühmte „Reitergrab von Neukölln“ entdeckt, die Ruhestätte eines etwa 40-jährigen Mannes, der zusammen mit seinem Pferd beigesetzt worden war. Abgesehen von einer Handvoll weiterer, schlechter erhaltener und weniger reich ausgestatteter Gräber in Neukölln, Mitte, Pankow und Spandau war das Reitergrab lange Berlins einziger bedeutender Fund der Merowingerzeit gewesen. Bis zu jenem Tag im März 1951.

"Eine Prinzessin", munkelte man bald

Nachdem die Knochen freigelegt und abtransportiert worden waren, landeten sie auf dem Untersuchungstisch des Anthropologen Hans Grimm. Bei dem Skelett, von dem nur Fragmente erhalten waren, fiel es Grimm relativ leicht, das Geschlecht und ungefähre Sterbealter zu bestimmen: Aus der Schädelform und dem Grad der Zahnabnutzung schloss der Anthropologe auf einen Mann, der zum Todeszeitpunkt etwa 30 bis 35 Jahre alt gewesen sein dürfte.

Das vollständigere der beiden Skelette war kleiner, noch nicht ganz ausgewachsen, es musste zu einem deutlich jüngeren Menschen gehört haben. Wegen der zarten Gesichtsformen tippte Grimm auf ein Mädchen, das aus unbekannten Gründen mit etwa 16 Jahren verstorben war. Die Tote musste, wie sich an den wertvollen Grabbeigaben ablesen ließ, in ihrem sozialen Umfeld zur Oberschicht gehört haben – eine „Prinzessin“, wie man in den Gängen des Museums bald munkelte.

Der Name blieb hängen. Als „Britzer Prinzessin“ ging das Skelett in die Berliner Historie ein. Ihr Name taucht in jedem Abriss zur frühen Regionalgeschichte auf, ihr Kamm aus Hirschhorn ist in der Dauerausstellung des Bezirksmuseums Neukölln zu sehen, ihre Gebeine wurden bis 2009 im Schloss Charlottenburg gezeigt und ruhen seitdem im Magazin des Museums für Vor- und Frühgeschichte.

Jedenfalls ruhten sie dort bis vor Kurzem.

Puzzlestücke aus dem Labor

Geschichte in Pulverform. Um das DNA-Material des Skeletts zu analysieren, wird in einem Labor des Virchow-Klinikums das Felsenbein – ein Knochenstück des Schädels – herausgesägt, gesäubert und zu Knochenmehl zerkleinert.
Geschichte in Pulverform. Um das DNA-Material des Skeletts zu analysieren, wird in einem Labor des Virchow-Klinikums das Felsenbein – ein Knochenstück des Schädels – herausgesägt, gesäubert und zu Knochenmehl zerkleinert.

© Thilo Rückeis

In einem sterilen Raum in Mitte beugen sich drei Frauen über einen Beckenknochen.

„Kein Stachel?“, fragt Claudia Melisch, die Archäologin.

„Also keine Kinder?“, fragt Marion Bertram, die Museumsleiterin.

„Sieht mir nicht danach aus“, sagt Natasha Powers, die Osteologin.

Wenn Frauen Kinder zur Welt bringen, zerren ihre überdehnten Bänder mit Gewalt am Beckenboden, wodurch am Bänderansatz kleine, knöcherne Spitzen entstehen können. Je mehr Geburten, desto mehr solcher Stachel. Am Becken der Britzer Prinzessin ist kein Stachel zu erkennen.

„Überhaupt scheint sie mir jünger zu sein, als Grimm glaubte“, sagt Powers. „Ich würde eher auf 13 tippen.“

Der Schädel wandert von Hand zu Hand

Die Knochenspezialistin ist eigens für die Untersuchung aus Großbritannien angereist, sie arbeitet für ein privates Archäologieinstitut im mittelenglischen Lincoln. „Osteologen“, erklärt sie, „arbeiten in erster Linie durch Beobachtung. Wir suchen Knochen nach ungewöhnlichen Merkmalen ab. Das heißt, dass wir eine Vorstellung davon haben müssen, was gewöhnlich ist – wir brauchen eine innere Vergleichsbasis.“ Powers’ Blick, verschärft durch dicke Brillengläser, ist freundlich, aber neugierig bohrend, als scanne sie unter der Haut ihrer Gesprächspartner intuitiv deren Knochenbau, um ihre innere Vergleichsbasis zu erweitern.

Das Britzer Skelett ist in ein Sandbett eingelassen und überzogen mit transparentem Lack – so präparierte man Gebeine in den 50er Jahren, wenn sie ausgestellt werden sollten. Für das, was Melisch, Bertram und Powers mit dem Skelett vorhaben, muss der Lack stellenweise wieder abgekratzt, müssen Knochen aus dem Sandbett gelöst werden. Den Schädel haben die drei bereits herausgetrennt, er wandert an jenem Vormittag von einer blau behandschuhten Hand zur anderen, mit routinierten, fast nachlässigen Bewegungen – man merkt, dass diese Frauen nicht zum ersten Mal mit Menschenknochen hantieren.

Die Archäologin. Claudia Melisch karrt im Kofferraum ihres Skoda Yeti Säcke voller Knochen durch die Stadt.
Die Archäologin. Claudia Melisch karrt im Kofferraum ihres Skoda Yeti Säcke voller Knochen durch die Stadt.

© Thilo Rückeis

Seit den 50er Jahren, besonders aber in den vergangenen zwei Jahrzehnten, haben sich die Möglichkeiten zur Untersuchung archäologischer Funde enorm entwickelt. Das ist der Grund, warum die Wissenschaftlerinnen das Britzer Skelett ins Archäologische Zentrum in der Geschwister-Scholl-Straße verfrachtet haben. Um durch Knochenstudien, Radiokarbondatierungen, Isotopen- und DNA-Analysen Erkenntnisse über den Berliner Raum der Merowingerzeit zu gewinnen, die in den 50er Jahren weder möglich noch vorstellbar waren.

Die germanischen Vorbewohner der Region waren in der ausgehenden Ära der Völkerwanderung bereits nach Westen weitergezogen, die später von Osten nachrückenden Slawen noch nicht eingetroffen. „Lange dachte man, dass hier in der Zwischenzeit komplette Siedlungsleere herrschte“, sagt Marion Bertram, die stellvertretende Leiterin des Museums für Vor- und Frühgeschichte. „Bis dann doch ein paar Einzelfunde auftauchten.“ Man könne davon ausgehen, dass rund um die Fundstelle der beiden Britzer Skelette weitere Menschen beigesetzt worden seien, dass der Ort im 6. Jahrhundert einer kleinen Siedlergemeinde als Friedhof diente.

"Diese Kerbe macht mich stutzig"

Aber wer waren diese Menschen? Die Grabbeigaben des Britzer Skeletts ähneln jenen, die zur gleichen Zeit im fränkisch-thüringischen Raum verbreitet waren, dem Kernland der Merowinger. „Denkbar wäre“, sagt Bertram, „dass das Mädchen von dort in den Berliner Raum verheiratet wurde, bevor es hier aus unbekannten Gründen starb.“

Natasha Powers, die Osteologin, kann an den Knochen keine Hinweise auf Langzeiterkrankungen wie Tuberkulose entdecken, die Spuren am Skelett hinterlassen hätten. Lediglich Anzeichen von Eisenmangel findet sie, aber der dürfte nicht lebensbedrohlich gewesen sein.

Eingehend betrachtet Powers am Ende ihrer Untersuchung die enge, u-förmige Ischiaskerbe am Becken des Skeletts. Bei den Knochen eines so jung verstorbenen Menschen, sagt sie, lasse sich das Geschlecht nicht eindeutig bestimmen, weil sich die typischen Merkmale erst in der Pubertät herausbilden. „Aber diese Kerbe macht mich stutzig. Wenn ich wetten müsste, würde ich sagen: Die gehört eher zu einem Jungen.“

Ein paar Wochen später. Natasha Powers ist zurück nach England gereist, Marion Bertram und Claudia Melisch begegnen sich in einem Laborraum der Charité im Weddinger Virchow-Klinikum wieder. Mitgebracht haben sie den Schädel des Britzer Skeletts.

„Nehmen wir das Felsenbein?“, fragt Melisch.

Jessica Rothe nickt. „Wir nehmen das Felsenbein.“

Normalerweise arbeitet sie im Auftrag der Polizei

Rothe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für forensische Genetik. Normalerweise arbeitet sie vor allem im Auftrag der Berliner Polizei. Sie erstellt DNA-Analysen zur Identifizierung von Vermissten oder zum Abgleich mit Täterdatenbanken. Eher zufällig lernte sie vor ein paar Jahren bei einer öffentlichen Führung Claudia Melisch kennen, als die Archäologin am Tag des offenen Denkmals einer Gruppe von Besuchern die Ausgrabungsstätte am Berliner Petriplatz zeigte. Rothe stellte so viele neugierige Fragen über die dort gefundenen mittelalterlichen Skelette, dass die beiden Frauen nach der Führung ins Gespräch kamen. Als die Archäologin erfuhr, dass ihre Zuhörerin DNA-Spezialistin ist, rief sie spontan: „Du musst mir helfen!“

Rothe und ihre Abteilungsleiterin Marion Nagy ließen sich leicht dafür begeistern, Melischs Forschungen zu unterstützen. Immer mal wieder parkt seitdem auf dem Hof des Virchow-Klinikums Melischs cremefarbener Skoda Yeti, in dessen Kofferraum die Archäologin Säcke voller Knochen aus der Petri-Grabung durch die Stadt karrt.

Die Knochenspezialistin. Natasha Powers ist Osteologin und arbeitet für ein privates Archäologieinstitut im mittelenglischen Lincoln.
Die Knochenspezialistin. Natasha Powers ist Osteologin und arbeitet für ein privates Archäologieinstitut im mittelenglischen Lincoln.

© Thilo Rückeis

Für Knochenuntersuchungen gibt es in der Charité-Abteilung einen eigenen, streng abgetrennten Laborbereich. Die wenigen Menschen, die hier Zutritt haben, wurden im Vorfeld genetisch sequenziert, um ihre DNA vom Erbmaterial der untersuchten Knochen unterscheiden zu können.

„Gerade archäologische Funde sind immer mit fremder DNA kontaminiert“, erklärt Rothe. „Bauarbeiter, Archäologen, Museumsmitarbeiter – alle haben die Knochen in der Hand gehabt.“

Melisch lacht. „Und an diesem Skelett wirst du wirklich alle Varianten von Fremd-DNA finden: Ich bin dunkelhaarig, Natasha Powers ist blond, Marion Bertram rothaarig.“

Gesucht: die dicksten Stellen der Knochen

Um möglichst gering kontaminierte Proben zu entnehmen, suchen DNA-Experten wie Rothe nach den dicksten Knochenstellen, aus denen sich innen liegendes, unberührtes Material heraussägen lässt. Meist verwenden sie die Zähne oder die massiven Schädelteile rund um den Gehörgang. Dort sitzt auch das Felsenbein. Rothe wird es im Labor aus dem Schädel des Britzer Skeletts heraussägen, von Lackspuren befreien und dann zerkleinern, um die inneren Teile zu Knochenmehl zu pulverisieren und schließlich mit einer Zentrifuge DNA-Material herauszufiltern. Das Gleiche wird sie mit dem zweiten Skelett tun, das in Britz entdeckt wurde, und mit den Knochen des Neuköllner Reiters.

Andere Teile der drei Skelette – Lendenwirbel, Fersenknochen, Backenzähne – sind derweil unterwegs nach Mannheim, wo sie per Radiokarbonuntersuchung datiert werden, sowie nach Durham, wo eine Isotopenanalyse durchgeführt wird.

„Man muss sich sehr genau überlegen, welche Knochenteile man für welche Untersuchungen einsetzt“, sagt Claudia Melisch. „Das verwertbare Material ist endlich. Irgendwann ist so ein Skelett aufgebraucht.“

Es dauert Monate, bis alle Untersuchungsergebnisse vorliegen. Nach und nach treffen sie bei Claudia Melisch und Marion Bertram ein, jedes ein Puzzlestück. Das Puzzle wird unvollständig bleiben, der Blick in die anderthalbtausendjährige Vergangenheit nur ausschnittsweise gelingen. Aber was sich in diesen Ausschnitten abzeichnet, fällt teilweise spektakulärer aus, als es die Wissenschaftlerinnen am Anfang ihres Forschungswegs erahnen konnten.

Die Prinzessin ist ein Prinz

Jahrhundertfund. Am 28. März 1951 stießen Bauarbeiter bei der Gestaltung des neuen Parks am Buschkrug im Neuköllner Ortsteil Britz auf etwas Hartes. Als sie vorsichtig weitergruben, entdeckten sie Knochen.
Jahrhundertfund. Am 28. März 1951 stießen Bauarbeiter bei der Gestaltung des neuen Parks am Buschkrug im Neuköllner Ortsteil Britz auf etwas Hartes. Als sie vorsichtig weitergruben, entdeckten sie Knochen.

© Bürgerverein Britz e.V./E. Moebus

Als Melisch und Bertram die Ergebnisse von Jessica Rothes DNA-Analyse in den Händen halten, bleiben ihre Blicke beim Wandern über die langen Formelreihen am Begriff „y-chromosomales Profil“ hängen. Y-chromosomal? Nur Männer haben Y-Chromosomen! Tatsächlich, Natasha Powers lag richtig mit ihrer Ischiaskerben-Wette: Das Britzer Skelett gehörte einem Jungen. Die Prinzessin ist ein Prinz.

Im selben Teil der DNA-Auswertung wartet eine zweite Überraschung: Die y-chromosomalen Profile der beiden nebeneinander gefundenen Britzer Skelette stimmen nach allen vergleichbaren Merkmalen miteinander überein. Die beiden Menschen, die hier bestattet wurden, gehörten also zur selben männlichen Fortpflanzungslinie – sie waren direkte Verwandte. Welcher Art ihr Verwandtschaftsverhältnis war, lässt sich an ihrer DNA nicht eindeutig ablesen, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit gehörte das zweite Skelett nicht dem Vater des Jungen, sondern einem anderen direkten Verwandten, etwa einem Onkel.

Die Isotopen liefern die Überraschung

Zur Frage nach der regionalen Herkunft des Britzer Jungen liefert die DNA-Analyse dagegen keine wirklichen Erkenntnisse. Das genetische Profil des Skeletts, sein sogenannter Haplotyp, ist weitverbreitet – er findet sich vor allem bei Nordeuropäern, kommt aber auch in anderen Weltgegenden nicht selten vor.

Die vielleicht größte Überraschung liefert die Isotopenanalyse. Isotopen sind, verkürzt gesagt, im Skelett eingelagerte chemische Elemente, die Aufschluss darüber geben können, welcher Ernährung und welchen sonstigen Umwelteinflüssen ein Mensch zu Lebzeiten ausgesetzt war. Für die beiden Britzer Skelette liefert die Isotopenuntersuchung seltsamerweise stark voneinander abweichende Ergebnisse. Die beiden scheinen sich, obwohl sie direkte Verwandte sind, sehr unterschiedlich ernährt zu haben. Mehr noch: Während das ältere der beiden Skelette Ernährungsspuren aufweist, die für den Berliner Raum der Merowingerzeit nicht ungewöhnlich wirken, scheint der Junge den größten Teil seines kurzen Lebens anderswo verbracht zu haben.

Die Genetikerin. Jessica Rothe analysiert die DNA des Skeletts.
Die Genetikerin. Jessica Rothe analysiert die DNA des Skeletts.

© Thilo Rückeis

An dieser Stelle erweist es sich als Segen, dass die Wissenschaftlerinnen in ihre Analyse auch das Skelett des Neuköllner Reiters einbezogen haben, das laut Radiokarbondatierung wie die beiden anderen Toten etwa in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts beigesetzt wurde. Denn unerwartet liefert die Isotopenuntersuchung für den Reiter ein ähnliches Ernährungsbild wie für den Britzer Jungen. Besonders bei der Analyse von Bleirückständen, die über bleihaltige Kochgeschirre, Keramikglasuren oder Wasserrohre in den Körper gelangen können, ergeben sich verblüffende Übereinstimmungen. Die wenigen Bleiquellen der Spätantike lassen sich relativ genau lokalisieren, und bei beiden Skeletten weisen die Isotopenspuren in dieselbe Richtung: den südosteuropäisch-kleinasiatischen Raum.

Zwischen drei Skeletten haben sich im Zuge der Untersuchung Verbindungen ergeben, die anders ausgefallen sind, als die Wissenschaftlerinnen es erwartet haben. Zwei sind miteinander verwandt, scheinen aber den Großteil ihres Lebens an unterschiedlichen Orten verbracht zu haben. Zwei andere, der Junge und der Reiter, sind durch kein Verwandtschaftsverhältnis verbunden, scheinen aber lange in derselben Region gelebt zu haben, die weit entfernt von ihrer späteren Grabstätte liegt.

Zog der Vater des Jungen in die Fremde?

Was das für die Lebenswege der drei Menschen bedeuten könnte, darüber lässt sich nur spekulieren. Zog der Vater des Jungen aus dem Berliner Raum in die Fremde und zeugte dort ein Kind? Ein Kind, das erst sehr viel später, offenbar kurz vor seinem verfrühten Tod, in die Heimat des Vaters einwanderte und dabei möglicherweise von einem berittenen Krieger begleitet wurde, der seine Heimat nie wiedersehen sollte?

Noch immer ist wenig bekannt über den Berliner Raum der Merowingerzeit. Außer Gräbern gibt es keine archäologischen Spuren, man hat kein klares Bild davon, wie die Menschen hier lebten, wie sie hausten, wie sie wirtschafteten, woran genau sie glaubten. Etwas mehr aber weiß man nun doch. Abweichend von den bisherigen Annahmen scheinen damals hier Menschen gelebt zu haben, die Verbindungen in weit entfernte Teile der Welt unterhielten, die weitaus mobiler, vielleicht auch ethnisch weniger homogen waren als gedacht.

Die Berliner, scheint es, waren schon zur Merowingerzeit ein ziemlich bunter Haufen.

Der Berliner Raum war verwaist, dann kamen die Slawen

Menschliches Leben ist im Berliner Raum seit etwa 60.000 Jahren nachweisbar. Die ersten Siedlungen entstanden sehr viel später, im 9. Jahrtausend vor Christus, nach dem Ende der letzten Eiszeit. Erst im 4. Jahrtausend setzten Ackerbau und Viehzucht ein, doch durchgehend bewohnt war die Region noch lange nicht, die Völker und Siedlungen kamen und gingen. Erste germanische Stämme ließen sich ab dem 6. vorchristlichen Jahrhundert an der Spree nieder, ihre Nachkommen kehrten der Region in der Spätantike den Rücken. Es folgte die siedlungsarme Merowingerzeit, an deren Ende Slawen den verwaisten Berliner Raum bevölkerten.

Noch einmal ein halbes Jahrtausend sollte es dauern, bis um die Mitte des 12. Jahrhunderts an der Spree zwei Siedlungen entstanden, die nicht wieder verschwanden: Berlin und Cölln. Beide verwuchsen miteinander, dehnten sich aus, überwucherten ihr Umland, verleibten sich Dörfer ein, wurden zur Stadt, in der wir leben.

Ein cremefarbener Skoda Yeti parkt vor einer flachen Halle am Berliner Petriplatz. Im Halleninneren sitzt an einem weißen Schreibtisch Claudia Melisch, umgeben von großflächig durchwühltem Sandboden. Die Knochen von knapp 4000 mittelalterlichen Skeletten haben die Archäologin und ihr Team bis heute aus diesem Boden geborgen, und nach inzwischen mehr als zehn Jahren ist ihre Grabung noch immer nicht abgeschlossen.

Grabbeigabe. Dem Leichnam presste man eine Goldmünze zwischen die Lippen, als Gabe für den Fährmann, der die Toten ins Jenseits rudert.
Grabbeigabe. Dem Leichnam presste man eine Goldmünze zwischen die Lippen, als Gabe für den Fährmann, der die Toten ins Jenseits rudert.

© Museum für Vor- und Frühgeschichte

Wenn Berlin als Stadt so etwas wie einen historischen Nullpunkt hat, dann ist es der alte Kirchhof am Petriplatz. Fast ein halbes Jahrhundert wurden hier in übereinandergelagerten Schichten Menschen beigesetzt, und die ältesten Skelettfunde datieren ins mittlere 12. Jahrhundert, die Zeit also, als beiderseitig der Spree die mittelalterlichen Siedlungen Berlin und Cölln entstanden. Berlin lag am Nordufer, Cölln südlich des Hauptarms auf der Spreeinsel, rund um die Petrikirche, deren Pfarrer Symeon im Jahr 1238 in der ältesten überlieferten Urkunde zur Stadtgeschichte erwähnt wird. Er ist Berlins erster namentlich bekannter Bewohner.

Ein knappes Jahrhundert älter sind die namenlosen Skelette, die als erste auf dem Kirchhof beigesetzt wurden. Wenig war über sie bekannt, als Melisch und ihr Forschungsteam sie ab dem Jahr 2007 ausgruben. Inzwischen weiß man etwas mehr. Melisch kann sagen, dass in den Berliner Pionierjahren kaum Kinder und nur wenige Alte auf dem Petriplatz beigesetzt wurden, sondern überwiegend Menschen mittleren Alters, was dafür spricht, dass die neue Doppelsiedlung vor allem Alleinstehende anzog: Menschen, die im besten arbeitsfähigen Alter ohne Familien hier ankamen, vielleicht, weil sie sich in der wachsenden Stadt Karrierechancen erhofften, weil sie einen Neuanfang suchten, weil sie ein anderes Leben hinter sich lassen wollten. Ganz so, wie es in Berlin bis heute ist.

Der Prinz ruht im Museumsmagazin

Auch zur Herkunft der Berliner Neuankömmlinge hat Melisch erste Erkenntnisse gewonnen, seitdem sie gemeinsam mit ihrem Forschungsteam die ausgegrabenen Knochen untersucht. Die allermeisten, rund 80 Prozent, zogen laut Isotopenanalyse aus der norddeutschen Tiefebene an die Spree, andere kamen aus dem thüringischen Raum und dem Rheinland.

Vieles mehr wird sich ermitteln lassen, wenn alle Petri-Skelette einmal so detailliert untersucht werden können wie der Britzer Prinz. Knapp 4000 Berliner Lebensgeschichten warten darauf, erzählt zu werden.

Die Prinzessin, die zum Prinz wurde, ruht inzwischen wieder im Magazin des Museums für Vor- und Frühgeschichte. Man könnte das Britzer Skelett erneut ausstellen, aber diese Praxis ist unter Archäologen in den vergangenen Jahrzehnten etwas aus der Mode gekommen. „Das war ja schließlich mal ein Mensch“, sagt Claudia Melisch.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false