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Berlin: Friedegard Liedtke (Geb. 1916)

Sie trainierte, gab das Rauchen auf und gewann das Sportabzeichen und den Sekt

Wenn du laufen willst, dann lauf eine Meile. Willst du aber ein neues Leben, dann lauf Marathon.“ Als Friedegard Liedtke mit 57 Jahren ihr Leben änderte, hatte sie das Motto des tschechischen Leichtathleten Emil Zátopek kaum im Sinn, aber schon zwei Jahre später stand sie an der Startlinie zu ihrem ersten Langstreckenlauf.

Jahrzehntelang hatte sie täglich zwei Schachteln HB geraucht. Ihr Mann, ein Arzt, war schon immer dagegen. Er selbst qualmte zwar ebenso viel, war sich aber sicher, sein hartnäckiger Husten käme ausschließlich von Friedegards parfümierten Zigaretten und nicht von seinen naturbelassenen Roth-Händle ohne Filter.

In diesem ersten Leben war Friedegard alles andere als sportlich. Aufgewachsen in einem wunderschönen Pfarrhaus im Harz, saß sie schon als Mädchen gerne im Garten in der Sonne und schlief sehr gern etwas länger. Wenn sie mit ihren Geschwistern die Harzer Eisenbahn nach Halberstadt zur Schule nehmen wollte, hatte der Schaffner häufig die Durchsage zu machen: „Wir müssen hier warten, Pfarrers Kinder kommen noch.“

Nach der Schule folgte sie ihrer älteren Schwester Elfriede nach Berlin und begann, genau wie diese, eine Ausbildung zur Krankenschwester. „Nun ergab es sich, dass der Medizinalpraktikant Liedtke mich zu einem Gespräch in sein Zimmer einlud und ich auch hinging, denn ich war verliebt. Die Tatsache, dass ich als Schülerin, als weibliches Wesen, ein Arztzimmer betreten hatte, war schon am nächsten Tag der Frau Oberin zu Ohr gekommen. Es gab eine fürchterliche Standpauke.“

Das junge Paar traf sich nun abends heimlich im Park, zumindest im Sommer, im Winter war es schwieriger. Noch Jahrzehnte später empört sich Friedegard in einer Festschrift des Krankenhauses über die Ungleichbehandlung: „So kam es, dass ich im Jahr 1942 nicht einmal zu meiner eigenen Hochzeit einen freien Tag bekam, sondern nach der Heirat mit Herrn Dr. Liedtke gleich wieder meinen Dienst antreten musste! Mein Mann dagegen bekam drei Tage Sonderurlaub!“

Die Sache mit dem Laufen begann mit einer Wette. Freunde meinten, sie würde nie das Sportabzeichen schaffen. Der Einsatz: eine Flasche Sekt. Friedegard war ehrgeizig und zäh. Wenn sie im Urlaub in den Alpen wanderte, kehrte sie vor dem Gipfel niemals um. Aber wenn sie im Sommer mit den beiden Kindern auf dem Fahrrad ins Strandbad Tegel fuhr, mied sie die Bewegung im Wasser. Sie zog es vor, möglichst ruhig zu liegen und zu bräunen.

Sie trainierte drei Monate, gab das Rauchen auf und gewann das Sportabzeichen und den Sekt. Und blieb beim Laufen, zuerst kurze, dann längere Strecken. Die Geschichte ihrer späten Liebe zum Sport ist auch eine Geschichte ihrer Emanzipation. Dr. Liedtke sah ihren neuen Lebenswandel skeptisch. Als sie 1975, mit 59 Jahren, zu ihrem ersten Marathonlauf in Berlin starten wollte, besorgte sie sich die obligatorische ärztliche Bescheinigung lieber nicht bei ihrem Mann. Der war nicht so begeistert, wenn sie samstags wieder ein paar Stunden weg war.

Zusammen mit Freundinnen gründete sie die Laufgruppe „Steinberghasen“. Bis zu 30 Frauen im besten Alter joggten mehrmals in der Woche durch den Waidmannsluster Steinbergpark. An Volksläufen durften Frauen damals noch nicht teilnehmen, und die „Steinberghasen“ mussten eine Menge Spott ertragen. Gartenarbeiter riefen: „Was rennt ihr so? Hinter euch ist doch eh keiner mehr her.“ Aber die eigenen Männer folgten ihnen dann doch noch auf die Strecke. „Zuerst waren Hunde und Männer verpönt. Dann durfte schon mal der ein oder andere Hund mit“, erinnert sich eine Freundin und Sportskameradin. Als die Ehemänner nach und nach in Rente gingen, gab es eine Sonntagsgruppe, zu der man die Gatten einlud, damit sie nicht so allein in ihren Fernsehsesseln zurückblieben.

Friedegard lebte bescheiden, wenn sie sich etwas gönnte, waren es Sportreisen. Sie lief Marathon in New York, Peking, Honolulu und Australien, und fast immer war sie die Gewinnerin ihrer Altersklasse – in welcher allerdings die Teilnehmerzahlen überschaubar waren. Auch auf kürzere Distanzen hält sie bis heute mehrere Senioren-Welt- und Europameistertitel. Auf den Reisen war sie umgeben von sehr viel jüngeren Athleten, denen sie nicht nur wegen ihrer sportlichen Erfolge ein Vorbild war. Für jeden immer ein Lächeln und nach Sport und Sauna natürlich ein gemeinsames Bier, diese Gemeinschaft war ihr Lebenselixier. Die Presse wurde aufmerksam, und Friedegard hatte großen Spaß an ihren Auftritten bei Christiansen, Will und Jauch. Einmal, da war sie schon über 80, wurde sie gefragt, wie lange sie noch laufen wolle. „Am liebsten möchte ich irgendwann beim Marathon tot umfallen. Aber es muss ja noch nicht heute sein.“

Der Wunsch hat sich nicht erfüllt, es gab für Friedegard noch ein Leben nach dem Sport. Bis 2002 hatte sie 30 goldene Sportabzeichen erhalten und fast 50-mal die Marathonstrecke bewältigt, ihre Siegertrophäen, Pokale und Medaillen überließ sie dem Sportmuseum Berlin. Der jährlich ausgetragene „Jedermannlauf“ durch den Tegeler Forst wird künftig der großen Sportlerin Friedegard Liedtke gewidmet sein. Sebastian Rattunde

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