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Berlin: Fred Diegel (Geb. 1929)

Wenn niemand zu empfangen war, breitete er die Arme einfach so aus.

Das federnde Knie, die Parallelführung der Bretter, der hangabwärts fixierte Blick. Nach der Kür trafen sich die betagten Skiherren zur videogestützten Fehleranalyse im Hotel. Fred galt im Profiteam der Alten Hasen als zurückhaltender Fahrer. Er hole nicht alles aus sich heraus, schone seine Knie zu sehr, krittelten die Sportsfreunde. Warum so vorsichtig, Fred?

In manchen Jahren ist er viermal in die Alpen gefahren, die anderen noch viel öfter. Er hatte das Skifahren als Kind im gletscherlosen Harz gelernt.

Das Reisen, der Sport, das „wunderbare Luxusleben“ der späten Jahre waren wohl die Wiedergutmachung für die Entbehrungen der frühen Jugend. Freds Vater wurde wegen „Hoch- und Landesverrats“ von den Nazis verhaftet. Beide Eltern waren aktive Kommunisten und hatten ihrem Sohn ein rebellisches Temperament mitgegeben. Fred musste in der Schule regelmäßig aus der Zeitung vorlesen, und weil er die Propagandameldungen verdrehte, setzte es Stockschläge. Als seine Mutter verhaftet wurde, kam Fred zu Pflegeeltern. Auf dem Weg von der Schule zu ihnen klingelte er im Frühjahr 1939 an mehreren Mietshäusern, machte einen artigen Diener und rief: Hitler will den Krieg!

Das Denunziantentum war noch nicht allgemein verbreitet, so dass Fred unbehelligt davonkam, zunächst. Verhaftet wurde er erst Ende 1943. Damals sympathisierte er mit den Edelweißpiraten und prügelte gegen die Marine-Hitlerjugend an. Zwei Jahre lang erlebte er eine Odyssee durch die Gefängnisse, bis er 1945 von den Amerikanern in Augsburg befreit wurde.

Nun konnte das Leben endlich loslegen. Fred machte eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann, schwenkte aber bald in Richtung Sozialarbeit um. In Berlin bekam er Anstellung als Bewährungshelfer für heranwachsende Straftäter. Als 1962 halb Hamburg in den Fluten der Elbe versank, schien es Fred an der Zeit, das Wort Bewährungshilfe mit neuen Inhalten zu füllen. Mit seinen Jugendlichen fuhr er ins Krisengebiet und wurde zusammen mit niederländischen Soldaten an die Süderelbe beordert. Eine Woche lang pumpten sie Wohnungen leer, trockneten die Wände und malerten. Und Fred hatte das Kommando, auch über die Soldaten. Die Berliner Zeitungen schrieben über diesen einzigartigen Katastrophenbewährungseinsatz für Straffällige, und damit war Freds Aufstieg ins Bezirksamt von Neukölln besiegelt. Mit Frau und Sohn bekam er eine Wohnung am Schöneberger Ufer, wo er nach dem Scheitern der Ehe jahrelang für seinen Sohn sorgte. Er wurde Leiter der Fafü, der Abteilung Familienfürsorge.

Bei der SPD machte Fred auch mit, brachte es bis zum Fraktionschef in Tiergarten, aber dann brach er seine Politikerkarriere überraschend ab. Die Sozialdemokratie war ihm „unheimlich“ geworden, sagte er. Wenn Sitzungen anstanden, wusste er schon vor Beginn, wie lange sie dauern und mit welchem Ergebnis sie enden würden.

Dem Tag sein volles Aroma abpressen, so versuchte Fred fortan zu leben. Ein Bonvivant mit Hut, langem Mantel und rosigen Wangen vom Radfahren. Er machte Yoga und rauchte Pfeife, was ihm zu einer Ausstrahlung als ruhender Pol verhalf. Wenn Giselle, seine große späte Liebe, vorschlug, ein paar Freunde einzuladen, war Fred sofort entflammt. Gäste empfing er mit ausgebreiteten Armen, und wenn gerade niemand zu empfangen war, breitete er die Arme einfach so aus, drückte die Welt an sich und das Glück, das er ihr entlockte.

Das Schwärmen für die Landschaften, die er bereiste, steht im auffälligen Kontrast zur nüchtern-funktionalen Einrichtung seiner Wohnung. Die weiße Schrankwand mit integriertem Bett und ausklappbarem Esstisch aus dem Hause Interlübke hatte es ihm angetan. Ein ewig haltbarer Klassiker der Moderne. Auch die Freischwinger-Stühle und das Bücherregal stammen von dem Möbelhersteller aus Ostwestfalen. Über einem Fachartikel zu Interlübke in der FAZ stand: „Schränke wie nach innen getragene Pelzmäntel.“

Fred liebte Jazz und guten Wein, bereitete fürs jährliche FaFü-Ehemaligentreffen die Feuerzangenbowle, stand stundenlang am Herd und war mit seinem Dasein sehr zufrieden. Fremde Sprachen hätte er wohl gerne gelernt, aber der Ehrgeiz reichte nicht fürs ernsthafte Bemühen. In der Sprachenschule spielte er den Klassenclown und schrieb die Adresse des Lokals an die Tafel, in das man nachher gehen sollte, um auf die Vokabeln anzustoßen.

Der Tod machte auch um Fred keinen Bogen, auch wenn beide gar nicht zueinander passten. Ein Aneurysma platzte. Sein Grab hatte er sich noch selber ausgesucht. Im Friedwald Fürstenwalde unter einer Eiche.

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