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Berlin: Frank Schreiber (Geb. 1928)

Einmal hat er sich verzählt. Danach nie wieder.

Zum letzten Aufgebot gehörte er, 1945 zur Verteidigung des Reichstags. Mit 17, als Meldegänger. Kurz zuvor hatten sie ihm beigebracht: Eine Handgranate explodiert nach Entsicherung nach vier Sekunden. Wenn einer eine schmeißt, dann duck dich und zähl: Einundzwanzig, Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig, Vierundzwanzig.

Dann ist Frank Schreiber doch zu früh losgelaufen.

Nachdem sein rechter Oberschenkel von einem Granatsplitter zerfetzt worden war, nachdem er sich in sowjetischer Gefangenschaft entzündet hatte und knapp unterhalb der Hüfte amputiert werden musste, kam er heim nach Nikolassee und sagte: „Ich bin selbst dran schuld. Ich hab mich verzählt.“

Sein Vater litt unter dem Gedanken, einen Krüppel zum Sohn zu haben, einen, von dem nicht mehr viel zu erwarten sei. Weil ihn die Humboldt-Universität als ideologisch belastet ablehnte, begann Frank Schreiber eine Lehre bei Siemens und brach sie wieder ab. Es ging nicht mit nur einem Bein. Wie er sich damals fühlte, darüber hat er auch später kaum gesprochen. Über das fehlende Bein zu klagen, verbot er sich ein für alle Mal. Vielleicht gehörte das zur „Haltung“, die ihm sein Vater immer eingebläut hatte.

Die Tochter Katharina Richter sagt: „Sein Klavierlehrer Wilhelm Forck hat ihm damals das Leben gerettet.“ Er lehrte ihn, seine Gefühle ins Klavierspiel zu legen. Und nützlich zu sein: Als Korrepetitor bei der Aufführung der „Entführung aus dem Serail“ der Droste-Hülshoff-Schule, als Klavierbegleiter seiner Schwester und beim Flötespielen mit Margarete Haude, der süßen Grundschullehrerin, die er schließlich heiratete.

Frank Schreiber studierte Jura an der Freien Universität Berlin, wurde nach schwieriger Arbeitssuche Verwaltungsjurist und arbeitete beim Berliner Landesrechnungshof. Mit dem Klavierspielen war jetzt Schluss: Ab acht saß er am Schreibtisch, um fünf Uhr machte er sich auf den Weg nach Hause, aß zu Abend, schaute Nachrichten und saß bis nach Mitternacht am Schreibtisch: Nichts durfte liegen bleiben. Nach 18 Jahren war er Direktor.

Streng, aber gerecht sei er gewesen, berichten ehemalige Kollegen. Und von Detailfragen besessen. Frank Schreiber verzählte sich nie wieder. Auf einer Betriebsfeier war ein Karikaturist eingeladen, der die Führungsriege des Rechnungshofes zeichnete. Die Kollegen malte mit Pfeife, mit Sportwagen, mit Fernseher, was eben so typisch für sie war. Schreiber mit Aktenordnern.

In seiner Freizeit sammelte Frank Schreiber Kursbücher der Deutschen Bahn. Er zeichnete Streckendiagramme, um das komplexe Zusammenspiel von Haltezeiten und Geschwindigkeiten zu verstehen: Wo begegnen sich zwei Züge, die um 17:41 Uhr und um 19:58 Uhr mit einer definierten Geschwindigkeit starten? Wo muss welches Signal gesetzt, welche Weiche gestellt werden?

Beim Familienurlaub im Schwarzwald, wo er sich durch geschicktes Wirtschaften eine Ferienwohnung leisten konnte, begleitete ihn die Familie zum Bahnhof. Später kaufte er eine weitere Wohnung am Lago Maggiore. Direkt vorm Balkon raste die Eisenbahn vorbei. Traumhaft. Weil es für den Güterverkehr leider kein Kursbuch gab, recherchierte er es selbst.

Im Winter 2009 sitzen Schreibers Tochter Katharina Richter und ihr Mann Rudolf Gäbler in ihrem Wintergarten, erzählen das alles und finden, dass einer bisher zu kurz gekommen sei: der andere Frank Schreiber. Der verspielte, musische, warmherzige, übermütige, energiegeladene, gesellige. Der „Knuddelpapa“, der die Härte seines eigenen Vaters nicht an seine Kinder weitergab. Der mit einem Bein Ski fuhr, an den Armen zwei Krücken mit Kufen unten dran. Der noch mit 65 das Versehrtensportabzeichen machte. Dessen schmatzende Küsse seine Kinder Katharina und Uli fürchteten. Dem die beiden ihre musische Begabung verdanken: Katharina ist Sängerin geworden, Uli Schauspielkapellmeister am Saarbrücker Theater. Katharina hat immer dieses Bild ihres Vaters vor Augen: Eines Mannes mit zwei offenen Armen.

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