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Porträtfoto Hans Louis Karl Leberecht von Kotze.

© privat

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Rudelei im Grunewald

Nach einer Schlittenfahrt wird im Jagdschloss Grunewald im Januar 1891 ausgelassen gefeiert - Angehörige der Hofgesellschaft kommen sich näher als die Etikette vorsieht. Die Orgie löst einen Sexskandal aus, der tödlich endet.

Diese Kolumne ist freigegeben ab 16 Jahren. Wir verzichten auf den billigen Effekt, eines der pornografischen Fotos zu zeigen, die im Geheimen Staatsarchiv des Preußischen Kulturbesitzes aufbewahrt werden, zusammen mit mehr als 200 anonymen Briefen, die den größten Sexskandal des Kaiserreichs dokumentieren.

Stattdessen präsentieren wir eine Aufnahme aus dem Familienalbum, ein Bild aus glücklichen Tagen, entstanden um 1880, von dem Mann, der später im Mittelpunkt der Affäre stehen wird. Hans Louis Karl Leberecht von Kotze und seine Frau Elisabeth ahnen nichts von den Abgründen triebhafter Lust und Verleumdung, in die sie das Schicksal stürzen wird.

Der Skandal nimmt seinen Lauf nach einer Schlittenfahrt im Januar 1891. Angehörige der Kaiserlichen Hofgesellschaft sind mit von der Partie, der winterliche Ausflug findet seinen Höhepunkt beim anschließenden Fest im Jagdschloss Grunewald. 15 Männer und Frauen, darunter die Gastgeberin und Schwester des Kaisers, Charlotte von Sachsen-Meiningen, kommen einander, animiert vom wärmenden Punsch, näher, als es die höfische Etikette vorsieht. Die Feier mündet in eine ausschweifende Swingerparty, in der sich Mitglieder der kaiserlichen Familie mit Hofbeamten und ihren Gattinnen vergnügen, eine Orgie ohne Tabus, bei der sich auch die Männer im Einvernehmen mehr als freundschaftliche Dienste erweisen. Unter den Anwesenden sind neben Friedrich Karl von Hessen, Gräfin Charlotte von Hohenau mit ihrem Gatten auch der Königlich Preußische Kammerherr Karl Ernst Freiherr von Schrader mit seiner Frau Alide und Hofzeremonienmeister Leberecht von Kotze.

Partyteilnehmer erhalten Briefe mit obszönen Bildern

Als Gerücht hätte das dekadente Treiben des Hofstaats womöglich weniger Aufsehen erregt, so lange es nur der Fantasie des Publikums überlassen geblieben wäre, sich die Bilder dazu auszumalen. Aber schon kurz darauf erhalten Partyteilnehmer Briefe, der anonyme Schreiber schildert peinliche Details, angereichert mit obszönen Bildern und Verleumdungen über homosexuelle und andere intime Neigungen der Adressaten.

Die Fahndung nach dem Urheber der Briefe bleibt nicht lange geheim, als die ersten Bilder außerhalb des Hofes kursieren und das Interesse der Öffentlichkeit wecken. Hobbydetektive nehmen die Spur auf, unter ihnen Baron von Schrader. Bald ist ein Verdächtiger ausgemacht: Zeremonienmeister Leberecht von Kotze. Am Hof gilt er als klatschsüchtig, ein eitler Geck, der großen Wert auf Äußeres legt. Es ist sein Hang zu ausgefallenen Krawatten, den das Spießermilieu der Hohenzollern als „weibisch“ ansieht. In Kotzes Privatbesitz finden sich Löschblätter, angeblich mit Tintenspuren der inkriminierten Briefe. Im Juni 1894 wird Leberecht von Kotze inhaftiert, doch drei Wochen später wieder entlassen – der Verdacht lässt sich nicht erhärten. Dennoch muss der geschasste Zeremonienmeister und Reserveoffizier monatelang vor Militärgerichten um seine Ehre kämpfen. Kaum rehabilitiert, fordert er seinen Widersacher, Baron von Schrader, zum Duell. Am Karfreitag 1896 stehen sich die beiden Männer auf dem Ravensberg bei Potsdam gegenüber. Karl Ernst von Schrader trifft ein tödlicher Schuss in den Unterleib. Wenige Tage danach verabschiedet der Reichstag eine Resolution gegen das Duellwesen. Leberecht von Kotze wird wegen „Tötung im Zweikampf“ zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt, aber schon nach drei Monaten vom Kaiser begnadigt. Doch seine gesellschaftliche Existenz ist vernichtet, die Ehe mit Elisabeth gescheitert. Beide ziehen sich aus Berlin ins Riesengebirge zurück.

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter www.tagesspiegel.de/fraktur

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