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Ein Mann spielt Posaune an der Warschauer Straße.

© Symbolfoto: Paul Zinken/dpa

Fragile Lebensentwürfe nicht nur in Coronazeiten: Ein Drittel der freien Musiker Berlins gibt den Beruf auf

Die Krise macht die Zerbrechlichkeit der Kulturwelt sichtbar. Eine Konferenz will ein besseres Bewusstsein für alternative Lebensweisen schaffen.

Am Mittwoch endete eine Umfrage des Landesmusikrats zur Situation freischaffender Musiker:innen in der Hauptstadt, einen Zwischenstand vom 24. Januar hat der Tagesspiegel bereits veröffentlicht.

Daraus geht hervor, dass knapp ein Drittel der teilnehmenden Musiker:innen aus Berlin bereits ihren Beruf aufgegeben haben oder gerade dabei sind, sich neu zu orientieren, da sie keine berufliche Perspektive mehr sehen.

Prekarität in den Künsten gibt es aber nicht erst seit Corona grassiert und der Kultursektor heruntergefahren ist. Vielmehr macht die Krise deutlich, wie zerbrechlich die Lebensentwürfe von Künstler:innen an sich schon immer waren. 

Der Landesmusikrat Berlin veranstaltet dazu eine sich über vier Wochen erstreckende Konferenz, die am Mittwoch begonnen hat.

Die Gewerkschaft Verdi, die Vereinigung Alte Musik, Berlin Music Commission, IG Jazz, Tonkünstlerverband Berlin, Initiative Neue Musik und Deutscher Orchestervereinigung sollen mit politisch Verantwortlichen darüber reden, wie den Betroffenen besser geholfen werden kann, durch die Krise zu kommen, und wie ihnen für die Zukunft, beim Wiederaufbau der Kultur nach der Pandemie, ein sichererer Platz in der Gesellschaft eingeräumt werden kann.

Hella Dunger-Löper, Präsidentin des Landesmusikrat (LMR).
Hella Dunger-Löper, Präsidentin des Landesmusikrat (LMR).

© Thilo Rückeis

„Es darf nicht sein, dass wir uns als Gesellschaft, wenn es uns gut geht, an der Kunst erfreuen und sobald es knapp wird sagen, Pech gehabt,“ moniert Hella Dunger-Löper, Präsidentin des Landesmusikrates Berlin.

Nicht, dass bislang keine Hilfen gekommen wären, „aber das Bewusstsein für die Produktionsverhältnisse und damit einhergehende Lebensweisen, wie sie im Kultursektor verbreitet sind, ist gering, das müssen wir ändern.“

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Kulturschaffende, die für Institutionen arbeiten, zum Beispiel an Unis oder Musikschulen lehren, sind weitgehend abgesichert.

Viele, die sich von Projekt zu Projekt hangeln, fahren aber mehrgleisig, da es in der Natur von Projekten liegt, zeitlich befristet zu sein und keine über sie hinausgehende Planungssicherheit zu gewährleisten.

Viele leben in ständig wechselnden Beschäftigungsformen

Die parallele Arbeit in verschieden Sektoren und mit wechselnden Funktionsbezeichnungen macht es schwierig, ihre Lebenssituationen zu erfassen, was nicht nur die Statistiken erschwert. Auch Behörden und Förderinstitutionen stehen im Einzelfall vor Herausforderungen, wenn die Lebensweisen nicht durchgehend den üblichen Rastern von Arbeitnehmer- und Selbständigenverhältnissen entsprechen.

Viele Künstler:innen arbeiten in ständig wechselnden Mischformen zwischen mehreren gering vergüteten Festeinkünften, vorübergehenden Nebenjobs, Honoraren und Stipendien. So bewerben sich Kulturschaffende, an die sich Förderungen richten, häufig gar nicht erst, wenn schon die Antragsverfahren andere Lebensentwürfe nahelegen.

Künstler:innen schlagen sich durch. Sie adäquat in Interessenvertretungen zu repräsentieren, ist dadurch auch nicht leicht, die Frage nach der Repräsentanz bildet entsprechend einen eigenen Schwerpunkt im Konferenzprogramm.

Viele Künstler:innen fallen durch die Sicherheitsnetze

„Deshalb haben wir auch Betroffene an den Tisch geladen, die gegebenenfalls auf unrealistische Vorstellungen aufmerksam machen können,“ sagt Dunger-Löper.

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Schätzungen zur Dunkelziffer Kulturschaffender, die etwa ihren Lebensunterhalt aus unterschiedlichen Tätigkeiten in der Musikbranche bestreiten, aber nicht die Kriterien der Künstlersozialkasse (KSK) erfüllen und entsprechend durch viele Raster fallen, sind vage. Indizien dafür, dass die Zahl gerade in Berlin besonders hoch ist, gibt es aber, und ihre Erfassung und Förderung erfordere ein anderes Denken, sagt Dunger-Löper.

Ein Umfrageteilnehmer habe berichtet, dass aus den Novemberhilfen nach Abzug der Steuer und erhöhter Steuerberaterkosten mit einem Minus von 80 Euro hervorgegangen sei. Wer ohne Arbeitslosenversicherung zwischen zwei Projekten Arbeitslosengeld II beantragt, muss in vielen Fällen zunächst seine Altersvorsorge, sofern vorhanden, aufbrauchen.

„Darum müssen wir mit Betroffenen und der Politik über die KSK reden, über den Zugang von Musiker:innen zur Arbeitslosenversicherung, Altersabsicherung und nicht zuletzt über ein Kulturfördergesetz.“

Es gehe darum, die Kulturschaffenden in der Gesellschaft zu verankern, an einem Platz, an dem sie auch leben – und gut leben können. „Wir brauchen die Kultur, das steht außer Frage, als eine Form der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge.“ So sieht das wohl auch Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die jüngst eine Aufstockung der Kulturhilfen um weitere 1,5 Milliarden Euro gefordert hat. Man darf hoffen, dass deren Verteilung sensibel für die Wirklichkeiten von Kulturschaffenden abläuft.

Die Lebensentwürfe im Kultursektor sind zerbrechlich, das ist zurzeit besonders deutlich. Ob sie es über die Krise hinaus auch bleiben, hängt vom politischen und gesellschaftlichen Willen ab.

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