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Höherer Erwartungsdruck: Das gaben 65 Prozent der Politkerinnen an.

© Rainer Jensen/dpa

„Fortschritt im Schneckentempo“ bei Frauenanteil: Von Gleichberechtigung in der Politik ist Berlin weit entfernt

Gleichstellung braucht nur etwas Zeit? Weiblicher Nachwuchs fehlt? Eine neue Studie räumt mit Annahmen auf – und zeigt, wo Berlin Anlass zur Hoffnung gibt.

Von Sonja Wurtscheid

Wer Franziska Giffey eine Email schreiben möchte, richtet sein Anliegen noch immer an "der-regierende-buergermeister@senatskanzlei.berlin.de". Die Adresse ist noch nicht umgestellt auf die nun weibliche Chefin. Und wenn sich da niemand drum kümmert, ändert sich auch nichts.

Gleiches gilt für das Verhältnis von Männern und Frauen in der Politik. Gleichstellung passiert nicht einfach von selbst, da sind sich Helga Lukoschat und Lisa Hempe sicher. Sie untersuchen für die Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF), wie sich der Frauenanteil in der Berliner Politik seit der Wende entwickelt hat. Von Parität, also einem Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen, ist Berlin noch immer weit entfernt, es braucht also einen Motor.

Die guten Nachrichten zuerst: Im Abgeordnetenhaus sitzen derzeit etwas mehr Frauen als nach der Wahl 2016. Ihr Anteil stieg auf 35,4 Prozent, gegenüber 33,1. Das ergab die Studie "Frauen Macht Berlin!" der EAF im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, die am Montag vorgestellt wird. Zum ersten Mal führt mit Franziska Giffey (SPD) eine Frau das Rote Rathaus. Und im Senat gibt es sogar etwas mehr Frauen als Männer (sechs zu vier).

Ein Durchbruch aber ist das nicht. Der Frauenanteil im Berliner Abgeordnetenhaus seit 1990 schwankt erheblich. Es gibt "keine kontinuierliche Aufwärtsbewegung, es handelt sich um einen Fortschritt im Schneckentempo", schreiben Lukoschat und Hempe. 2006 waren schon einmal fast 40 Prozent der Abgeordneten Frauen. Auch der aktuelle Bundestag bleibt beim Frauenanteil hinterm einstigen Höchststand zurück. "Die Entwicklungen machen deutlich, dass sich die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in den Parlamenten nicht von selbst einstellt."

Dabei sind in Berlin verglichen mit anderen Bundesländern relativ viele Frauen in der Politik aktiv. Die Hauptstadt kletterte von Platz 5 auf Platz 4. Mehr Frauen sind nur in den Parlamenten von Hamburg (44,7 Prozent), Bremen (37) und Mecklenburg-Vorpommern (36,7) vertreten. Schlusslicht ist Bayern mit 26,8 Prozent.  

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Die Umgangsformen in Parlamenten sind für Frauen oft nicht besonders angenehm.
Die Umgangsformen in Parlamenten sind für Frauen oft nicht besonders angenehm.

© Fabian Sommer/dpa

Überhören, unterbrechen, lächerlich machen

Woran liegt es, dass Frauen im Politikbetrieb immer noch nicht annähernd genauso stark vertreten sind wie in der Bevölkerung? Die Autorinnen haben einige Faktoren identifiziert. "Familienunfreundliche Sitzungszeiten, hoher Zeitaufwand, wenig einladende Kommunikationsstrukturen und Umgangsformen."

Was sich hinter "wenig einladenden Umgangsformen" verbirgt, hat eine repräsentative Studie der EAF und des Instituts für Demoskopie Allensbach jüngst illustriert. Die Studie zeigt, dass das Klima in Parteien und Parlamenten von einem mehr oder weniger offenen Alltagssexismus geprägt sind. Das Spektrum reiche vom "Überhören" der Wortbeiträge von Frauen bis hin zu häufigem Unterbrechen oder Lächerlichmachen. Die betroffenen Frauen müssen so den Eindruck gewinnen, nicht als voll- oder gleichwertige Mitglieder anerkannt und einbezogen zu sein.

Fast zwei von drei der befragten Politikerinnen sehen sich unter einem höheren Erwartungsdruck, was ihre Leistung, ihre äußere Erscheinung und ihr Auftreten sowie ihr Privat- und Familienleben betrifft. Auch ist sexuelle Belästigung (im Sinne unerwünschter, sexuell bestimmter Verhaltensweisen) in Parteien und Parlamenten verbreitet: 40 Prozent der Politikerinnen haben dies schon einmal erlebt. Bei den unter 45-Jährigen sind es sogar 65 Prozent.

Schon vor der Wahl benachteiligt

Um dieses Klima in einem Parlament zu erleben, müssen Frauen erst einmal gewählt werden. Oft sind diese aber schon vor der Wahl benachteiligt, wie Lukoschat und Hempe herausgefunden haben. Sie werden seltener zur Wahl aufgestellt als Männer, vor allem in den Wahlkreisen. "Dies gilt – bis auf Bündnis 90/Die Grünen – für alle Parteien, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung." 2021 standen in den Wahlkreisen 299 männlichen Kandidaten 168 Frauen gegenüber.

Selbst die SPD, die Berlin als "Stadt der Frauen" ausgerufen hat, hinkt hinterher. Sie schaffte es bei den vergangenen Wahlen nicht, gleich viele Frauen wie Männer in den Wahlkreisen aufzustellen. Dabei ist ein Gleichgewicht bei den Kandidat:innen nicht das einzig entscheidende Kriterium. Ebenso wichtig ist, ob Frauen in aussichtsreichen Wahlkreisen aufgestellt werden. Von den 33 SPD-Frauen wurden nur sieben gewählt.

Frauenanteil in der CDU schlechter als bei der AfD

Besonders groß ist diese Lücke bei der CDU. Von 25 aufgestellten Frauen wurden drei direkt gewählt. Über die Bezirkslisten rückte eine von 50 Frauen ins Abgeordnetenhaus. Das Fazit der Studien-Autorinnen: Frauen wurden in den weniger aussichtsreichen Wahlkreisen aufgestellt und bekamen die schlechteren Listenplätze.

In der CDU-Fraktion sitzen damit nur 13,3 Prozent Frauen. Die CDU ist "die am stärksten männlich dominierte Partei im Abgeordnetenhaus", bilanzieren Lukoschat und Hempe. Sogar die AfD ist besser (15,4 Prozent) - eine Partei, deren Satzung parteiinterne Quoten und Maßnahmen zur Frauenförderung explizit ablehnt. "Das ist für die Berliner CDU kein gutes Zeugnis", sagt Lukoschat.

Die FDP erzielt keinen wesentlich besseren Wert: In ihrer Fraktion sitzen zwei Frauen (16,7 Prozent). Auf den Bezirkslisten stellten die Liberalen 22 Frauen auf. Jedoch wurden nur zwei gewählt, bei zehn Männern. "Die aussichtsreichen ersten Plätze auf den Listen gingen daher ganz überwiegend an Männer", schreiben die Autorinnen der Studie.

Zu wenig weiblicher Nachwuchs? Stimmt nicht

Das aus der Diskussion um Frauenanteile in der Politik bekannte Argument, es gebe nicht genug weiblichen Nachwuchs, entkräften die Autorinnen. In den ehrenamtlich geführten Berliner Bezirksverordnetenversammlungen nämlich liegen die Anteile von Frauen selbst bei FDP und CDU deutlich über denen im Landesparlament.

Grüne, Linke und SPD haben sogar mehr Frauen als Männer in den Bezirksparlamenten. Kleinere Parteien wie Die Partei oder die Tierschutzpartei, die oft unter "Sonstige" aufgeführt werden, kommen sogar auf 63,6 Prozent Frauen.

"Diese Daten zeigen, dass es – trotz eines oft dreifachen Spagats zwischen Beruf, Familie und politischem Ehrenamt – möglich ist, Frauen für diese Aufgaben zu gewinnen", schreiben Lukoschat und Hempe. Ein Engagement auf kommunaler Ebene sei oft das Sprungbrett in die Landespolitik.

"Die Berliner Parteien verfügen theoretisch wie praktisch über ein ausreichend großes Potenzial, um ihre Wahlkreise und Listen paritätisch mit Frauen und Männern zu besetzen. Das oft gehörte Argument, es fehle der weibliche Nachwuchs bzw. die potenziellen Kandidatinnen, ist also nicht stichhaltig." Oder wie Lukoschat es sagt: "Das zieht hier in Berlin nicht."

Seiner Fraktion fehlt die weibliche Perspektive: CDU-Chef Kai Wegner, hier bei einem Wahlkampftermin vergangenes Jahr.
Seiner Fraktion fehlt die weibliche Perspektive: CDU-Chef Kai Wegner, hier bei einem Wahlkampftermin vergangenes Jahr.

© imago images/Stefan Zeitz

Nur wie lässt sich in der Politik ein Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen erreichen? "Ich halte Quoten und ein Paritätsgesetz nach wie vor für das beste Mittel der Wahl", sagt Lukoschat. Ein solches Paritätsgesetz war in Brandenburg und Thüringen von Gerichten kassiert worden. Beschwerden dagegen wies das Bundesverfassungsgericht als nicht ausreichend begründet ab.

Aus Sicht von Lukoschat hat sich das oberste Gericht aber nicht grundsätzlich gegen ein Paritätsgesetz ausgesprochen. In Berlin will die Koalition aus SPD, Grünen und Linken einen Versuch unternehmen, einen solchen Motor einzubauen. Im Koalitionsvertrag haben sie festgehalten, dass "das Ziel einer Einführung eines verfassungsgemäßen Paritätsgesetzes weiterverfolgt" werden soll.

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