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Flüchtlingsheim auf Zeit. In einem Ex-Bürohaus in Berlin-Karlshorst leben nun bald 300 Männer, Frauen und Kinder.

© Björn Kietzmann

Flüchtlingsstrom nach Berlin: „Die Stimmung könnte kippen“

Nach dem Chaos und Schlägereien vorm Lageso werden ab Sonntag 300 Flüchtlinge in Karlshorst untergebracht - im früheren Telekom-Gebäude. Die NPD verteilt Flugblätter, Anwohner Äpfel. Zwei Besuche vor Ort.

Vielleicht liegt Lothar Riemann völlig daneben. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, trotz der fehlenden Räume, der Hitze, der neuen Zahlen: mindestens 700 neue Flüchtlinge kamen am Freitag in Berlin an. Vielleicht beruhigt sich die Lage wieder, wenn Michael Müller (SPD) in drei Tagen öffentlich erklären wird, dass sein Senat alles im Griff habe.

Womöglich aber hat Riemann – Mitte 70, kurzärmeliges, grün-rotes Hemd zu grauer Hose und schwarzen Sandalen – doch Recht: „Die Stimmung könnte kippen.“ Riemann sagt, er selbst habe Kleidung an Flüchtlinge gespendet. „Kommunistenehre!“, ruft er und lacht.

Riemann steht am Samstag bei 33 Grad in der beschaulichen Siedlung in Karlshorst, durch die nun laufend Flüchtlinge in Polizeiwagen zu ihrer neuen Unterkunft gefahren werden: Schon am Sonntag werden 300 Männer, Frauen und Kinder im früheren Telekom-Gebäude in der Köpenicker Allee wohnen. Die stadtweit 60 Flüchtlingsheime reichen nicht.

Ist dieser Staat zu schwach?

Zuletzt campten Hunderte vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Moabit bei fast 40 Grad – es gab Schlägereien. Doch die Behörde hat zu wenig Mitarbeiter, um auch nur alle Asylanträge aufzunehmen. Häuser fehlen ohnehin, seit 2014 halten alte Büros, Ex-Schulen und bald Zelte her.

Nun also Karlshorst. Lothar Riemann wohnt „zwei Straßenbahn-Haltestellen weiter“, wie er sagt, und ringt mit sich: „Also helfen, klar, am besten allen!“ Pause. „Nur...“ Ja? „Nur, die Bedingungen müssen stimmen, ein Konzept muss her.“ Es habe „nirgendwo auf der Welt“ ohne Arbeit, ohne Bildung, ohne starken Staat eine gelungene Integration gegeben. „Ist dieser Staat stark?“

Diejenigen, die in den vergangenen Tagen das Lageso in der Turmstraße besucht haben, sahen: Es fehlt an vielem. Kaum ein Politiker – selbst der Regierungsparteien –, der noch leugnen würde, dass das Land eigene Häuser und mehr Personal braucht.

Die NPD verteilt Flugblätter in Karlshorst

Auch die NPD hat das erkannt. In der Mittagssonne am Samstag verteilen Anhänger der rechtsextremen Partei vor dem S-Bahnhof Karlshorst eindeutige Flugblätter. Rentner Riemann sagt: „Weg mit denen!“ – und es klingt wie eine Drohung. Er habe selbst in der Verwaltung gearbeitet, sagt Riemann, vor 1989. „Und nun muss die Kirche alles retten, weil der Staat so schwach ist“, sagt Riemann. „Das ist doch nicht richtig.“

Tatsächlich hat die Caritas auch in diesen Tagen wieder zügig und unbürokratisch Flüchtlinge untergebracht. Schon im Streit um den von Flüchtlingen besetzen Oranienplatz half der katholische Wohlfahrtsverband die zugespitzte Lage zu retten, und bot 60 Besetzern Schlafplätze in einem Caritas-Haus in Wedding an. Eine Lageso-Mitarbeiterin sagt: Ohne externe Helfer laufe nichts mehr.

Anwohner bringen Gartenäpfel in Moabit

Am Wochenende hat das Lageso zu, viele Flüchtlinge gehen in die Polizeiwachen der Stadt und versuchen so einen Schlafplatz zu bekommen. Die Beamten fahren die Gestrandeten dann in Notunterkünfte wie die in Karlshorst. Dort warten oft schon wohlmeinende Anwohner und linke Unterstützer. Ein Mann in sandfarbenen Shorts bringt einen Eimer mit Gartenäpfeln an das Lageso-Tor. Der Pförtner gibt ihm die Adressen der nächsten Notunterkünfte.

Am Freitag kamen 765 Männer, Frauen und Kinder im Lageso an. Sie alle wollten einen Asylantrag stellen, 199 konnten die Beamten registrieren – und auch das nur dank unzähliger Überstunden.

Wie es weiter geht? „Dritte Welt, Verwahrlosung“, murmelt die Lageso-Mitarbeiterin, die an diesem Wochenende „am liebsten 20 Stunden schlafen würde.“ Auf dem Rasen des Lageso-Areals schwirren Fliegen um die Stellen, an denen sich Flüchtlinge erleichtert haben, seit sie tagelang auf der Wiese lebten. Dem Vernehmen nach, waren auch die mobilen Toilettenhäuschen so verdreckt, dass sie nun eingeweicht werden müssen.

Verdreckte Klos, allein gelassenes Amt

„Die Klos sind so verkrustet“, sagt ein Angestellter. „Das kriegt man nicht mal mit Hochdruck-Strahl ab.“ Unzivilisierte Flüchtlinge? „Vielleicht, vor allem aber Versagen des Senates.“ Zwei Toiletten hätten da gestanden, für Hunderte, tagelang. Der Senat lässt sein derzeit am meisten beanspruchtes Amt allein – das glauben sie im und außerhalb des Lageso.

Der Flüchtlingsrat und die Opposition hatten immer wieder gefordert: Die Flüchtlingsfrage sei eine gesamtstädtische Aufgabe, das Lageso und die übergeordnete Verwaltung von Sozialsenator Mario Czaja (CDU) damit allein zu lassen, sei unverantwortlich. Am Dienstag will sich dazu nun der Regierende Bürgermeister Müller äußern.

Schon am Montag werden wieder Hunderte das Lageso bestürmen. Immerhin sollen die Flüchtlinge nun gleich in Unterkünfte gebracht werden. Die Lageso-Mitarbeiter sollen dann in die Heime fahren und die Anträge der Asylbewerber flexibel dort aufnehmen. So soll verhindert werden, dass wieder Dutzende Familien auf dem Rasen campen.

Zu der Schlägerei, die es am Freitag gegeben hatte, gibt es widersprüchliche Angaben. Einzelne junge Männer aus Unterstützerinitiativen hätten Flüchtlinge aufgewiegelt, sagen die einen. Der Sicherheitsdienst habe überreagiert, behaupten andere. Die Polizei war mit 180 Beamten im Einsatz, nahm einige Personen vorübergehend fest, es gab mehrere Verletzte. Die Polizei ermittelt.

Unabhängig davon zeigt sich kommende Woche, wo der Staat bleibt.

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