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Nimm mich in den Arm. In der Erstaufnahme- und Clearingstelle des Landesjugendamtes in der Wilmersdorfer Prinzregentenstraße, die bald eröffnet wird, sind Zimmer für Kinder und Jugendliche, die allein nach Berlin flüchten, eingerichtet worden. Auf jedem Bett sitzt ein Kuscheltier, zur Begrüßung, als kleine Freude, als Halt in der Fremde.

© Annette Kögel

Flüchtlingskinder allein in Berlin: Ersatzeltern gesucht

Tausende Kinder und Jugendliche flüchten allein hierher. Berlin sucht dringend mehr Pflegeeltern. Die Erfahrung ist auch für die Erwachsenen bereichernd.

Kuscheltiere lieben sie alle, auch die Älteren. Die Plüschtiere sind Halt in der Nacht, ihnen werden liebevoll Namen verliehen, und bei einem Umzug innerhalb der Stadt werden die Tiere unter den Arm geklemmt. Die jungen Afghanen oder Syrer, die afrikanischen Kinder, sie reden dann auf Deutsch mit Teddy, Bärchen und Giraffe, denn in den Kinderaugen sind die Tiere schließlich echte Berliner, verstehen also nur Deutsch.

Allein seit Januar sind in diesem Jahr schon beinahe tausend minderjährige unbegleitete Flüchtlinge nach Berlin gereist. Die jüngsten Ankömmlinge sind gerade einmal sechs Jahre alt. Hinter ihnen liegt eine lange Flucht vor Bürgerkrieg und Verfolgung. Zu Fuß und auf Anweisung von Schleppern haben viele von ihnen sich über hunderte Kilometer gequält, um schließlich das Mittelmeer in unsicheren Schlauchbooten zu überqueren und Zuflucht in Europa zu finden. Allein und auf sich gestellt oder mit Bekannten oder vielleicht dem Bruder.

Das Kind vor Rekrutierung schützen

4252 Kinder und Jugendliche sind im vergangenen Jahr als unbegleitete Geflüchtete in Berlin angekommen. Im Januar 2016 waren es 324 junge Menschen unter 18 Jahren, im Juni 49, bilanziert die Senatsjugendverwaltung. In der Spitze erreichten täglich fast 30 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – in Behördensprache auch UMF oder UMA genannt – Berlin. Die Älteren unter ihnen hoffen oft auf ein besseres Leben mit Berufschancen – lieber allein in Deutschland als mit Familie perspektivlos etwa in einem Land wie Afghanistan. Die Jüngeren aus Ländern wie Syrien werden indes oft von den Eltern vorgeschickt, in der Hoffnung auf Familiennachzug. Und sie wollen die Rekrutierung ihrer Jungen für den Krieg verhindern und das Kind dann lieber so retten.

Für all die Kinder und Jugendlichen, die somit auf unbestimmte Zeit ohne die leibliche Familie in einer völlig anderen Welt zurechtkommen müssen, übernimmt die Politik eine besondere Verantwortung: Schließlich gelten die Kinder und Jugendlichen unter 18 als besonders schutzbedürftig und dürfen nicht abgeschoben werden. Stattdessen haben sie ein Anrecht auf einen Schulplatz und sollen intensiv pädagogisch betreut werden.

Tausende sind gekommen

Um das sicherzustellen, reichen den Jugendämtern der Bezirke und den weiteren zuständigen, angesichts der hohen Zahlen überlasteten Ämter jedoch kaum die Mittel. Deswegen setzen Senat und Bezirke jetzt auch auf private Pflegefamilien. Sie kosten die Ämter weit weniger als ein Platz etwa im betreuten Jugendwohnen – und sie bieten durch die persönliche Anbindung an Familien oder Alleinerziehende eine besondere Integration.

So lernen viele der bereits rund 40 in Berlin in Steglitz-Zehlendorf und in Tempelhof-Schöneberg bei Pflegeeltern untergebrachten Kinder jetzt etwa im Familienverband schwimmen oder das Berliner U-Bahn-Netz kennen. Ersatzmutter oder -vater helfen bei der Schulplatzsuche und den Hausaufgaben. Die leiblichen Eltern in der Ferne müssen zustimmen, dass das eigene Kind bei Berliner Gast- beziehungsweise Pflegeeltern unterkommt. Es ist ja für alle etwas Neues.

„Konzeptionell arbeiten wir schon eine Weile an Pflegefamilien, bei den Vermittlungen sind wir noch am Anfang“, sagt Sonja Kaba. Sie ist im Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg für die Jugendhilfe zuständig. Andere Bezirke erkundigen sich jetzt dort nach den neuen Konzepten. Weil das Landesjugendamt in den ersten drei bis sechs Monaten während der Clearingphase für die UMF verantwortlich ist und die Kinder dann nach einem Verteilschlüssel in die Zuständigkeit der Bezirke übergeben werden, machen sich die hohen Zahlen in den Jugendämtern erst jetzt bemerkbar. Und es sind so viele Kinder und Jugendliche in Not.

Schnelles Verfahren, langfristige Hilfe

„Hier stehen die Menschen zwar nicht wie beim Lageso vor der Tür, aber wir spüren die seit einem Jahr steigenden Flüchtlingszahlen. Da wir zu wenig Personal haben, müssen wir ziemlich kämpfen“, sagt Kaba. Den anderen Experten in den Bezirksjugendämtern geht es genauso. Bisher greift das Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auf drei Unterbringungsmöglichkeiten zurück: Vollzeitbetreuung für die Kleinsten, ein Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft oder in einer betreuten Einzelwohnung. „Mit den Pflegefamilien wollen wir unsere Angebotspalette erweitern, um jedem jungen Menschen seiner Not entsprechend helfen zu können“, sagt Kaba. Dafür baut die Behörde sogar bürokratische Hürden ab. Während ein herkömmliches Verfahren zur Vermittlung einer Pflegefamilie bis zu zwei Jahren dauern kann, gibt es bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen ein verkürztes Verfahren.

Die Kriterien bleiben jedoch dieselben, versichert Peter Heinßen, Geschäftsführer des Vereins „Familien für Kinder“, der berlinweiten Beratungsstelle für potenzielle Pflegeeltern: „Interessierte müssen nachweisen, dass sie ausreichend Wohnraum besitzen, genug Zeit haben, gesund sind, und sie müssen ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen.“ Zudem wird die pädagogische Eignung getestet. Außerdem müsse man finanziell vom Pflege- und Erziehungsgeld, das Pflegeeltern vom Jugendamt bekommen, unabhängig sein. „Diese Voraussetzungen erfüllen eigentlich recht viele Interessierte“, sagt Peter Heinßen. Interessenten müssen auch offen sein für andere Kulturen und Religionen; viele der Pflegeeltern sind selbst oft schon viel in der Welt unterwegs gewesen.

Es suchen auch kleine Kinder Pflegeeltern

Mehr Probleme gebe es, wenn manche Erwartung enttäuscht würden. „Viele glauben, dass sie ein armes, kleines Waisenkind adoptieren können“, sagt Heinßen. Tatsächlich seien die meisten Schützlinge aber männlich und 15 bis 17 Jahre alt. Zudem seien viele von ihnen durch ihre Erfahrungen auf der Flucht bereits sehr selbstständig. Einerseits.

Andererseits sind auch acht- bis zwölfjährige Kinder unter den Betroffenen, die viel Aufmerksamkeit, Zuwendung, Verlässlichkeit, neue Rituale und Stabilität brauchen. Berliner Pflegemütter und -väter haben teils schon ihre eigenen Kinder großgezogen und stellen nun fest, dass sich die Kinder und Jugendlichen, die neu zu ihnen kommen, „trotz ihres anderen Glaubens und ihrer Herkunft überwiegend so verhalten wie deutsche Teenager auch“. Dass sie in den Familien sehr schnell Deutsch lernen, dass es schon stärkende Pflegeelternnetzwerke gibt.

Manche Pflegeeltern nehmen einen Jungen als weiteres Kind in ihren Familienalltag auf, andere sind kinderlos, alleinerziehend, aber erfahren im Umgang mit Kindern oder Schülern. In Schulungen wird darüber geredet, welche Beziehung man erwarten kann, wie sie aufgebaut wird. Schon nach kurzer Zeit kann eine vertrauensvolle Beziehung entstehen.

Es gibt Flüchtlinge, bei denen sich ihre Eltern – etwa Afghanen – bewusst sind, dass sie selbst nicht nach Deutschland kommen können. Und es gibt Kinder, die einen psychologischen Spagat vollführen zwischen dem alten Leben in der leiblichen Familie und dem neuen Leben in Berlin mit neuen Bezugspersonen, die Sicherheit und Geborgenheit vermitteln.

Pflege- beziehungsweise Gasteltern, wie sie teils genannt werden, müssen ebenso die Balance finden. Sie gewinnen ihren neuen Schützling lieb, müssen sich aber auch bewusst sein, dass es ein familienähnliches Leben auf Zeit ist. Doch diejenigen, die sich schon auf die neue Form der Pflegeelternschaft eingelassen haben, erfahren, dass diese Wahlverwandtschaft beide Seiten bereichert.

Bezirke zahlen unterschiedlich viel Unterstützung

Der Träger „Familien für Kinder“ berät Interessierte und vermittelt für drei Bezirke auch Flüchtlingskinder und Pflegeeltern. „Vor allem in Steglitz-Zehlendorf konnten wir bereits gute Erfahrungen machen“, sagt Heinßen. Ihn ärgert, dass sich andere Bezirke beim Thema Pflegefamilien zurückhalten. „Wir haben in den zwölf Bezirken zwölf völlig unterschiedliche Strukturen.“ So gab es bei Pflegeelternabenden Unverständnis darüber, dass die Bezirke den Pflegeeltern für die Hilfe zur Erziehung unterschiedlich viel als Unterstützung zahlen. Und Brandenburger Flüchtlingspflegeeltern, die oft auch die Arbeitszeit reduzieren, erhalten weniger als Berliner. Die Residenzpflicht schreckt einige Interessenten ab – dürfen sie doch mit ihren Schützlingen, die erst mal in Deutschland bleiben müssen, nur in Ausnahmefällen ins Ausland reisen.

Für die bislang noch wenigen Vermittlungen macht Peter Heinßen indes einen weiteren Aspekt verantwortlich: „Nach der Geschichte in Köln nahm das Interesse spürbar ab“, sagt er. In der Silvesternacht sind hunderte Frauen vor dem Kölner Hauptbahnhof sexuell belästigt worden. Übereinstimmend bezeichneten viele von ihnen Nordafrikaner als Täter. Das trübte die Willkommenskultur – ensetzte aber auch viele Flüchtlinge.

Flüchtlinge genießen Verbindlichkeit eines "normalen Alltags"

Grundsätzlich solle man Pflege nicht auf die leichte Schulter nehmen, sagt Heinßen. „Krieg, Flucht, Traumata – viele tragen ein Päckchen mit sich.“ Andererseits sind etliche der Kinder bindungsfähig, weil sie in intakten Familien aufwuchsen. Heinßen hält Pflegefamilien für einen guten Ansatz: „Die Jugendlichen sind in ein Familiensystem integriert und sehen – anders als in Sammelunterkünften – das normale Leben.“ Sie seien behütet. Auf den potenziellen Familiennachzug hat die Art der Unterbringung keine Auswirkung – wichtiger Punkt für die leiblichen Eltern. Es gelten die Gesetzesregeln unabhängig von der Unterkunft.

Sonja Kaba ist überzeugt, dass „Integration gelingt“, und hebt auch die Vorteile für potenzielle Pflegeeltern hervor. „Wenn jemand ein Kind aufnimmt, Zeit hat, für es da ist, ist das durch nichts zu ersetzen und die beste Chance für seine Entwicklung und Integration.“ Es sei „eine wunderbare Chance für bestimmte Kinder und Jugendliche, die Verbindlichkeit eines Familienlebens zu genießen“.

Feste Bezugspersonen fürs ganze Leben

Menschen, die diese Aufgabe übernähmen, blieben für die Kinder auch in späteren Jahren oft feste Bezugspersonen. In anderen stationären Unterbringungsformen sei dies eher nicht gegeben. Doch obwohl man den Pflegeeltern Therapeuten und Dolmetscher zur Seite stellt und auch Alleinerziehende und gleichgeschlechtliche Paare fürs Verfahren zulässt, konnten in Friedrichshain-Kreuzberg bisher lediglich vier Kinder vermittelt werden. „Die Strukturen stehen“, sagt Sonja Kaba, „jetzt brauchen wir noch Interessierte.“

Wer einen jungen Flüchtling als Pflegekind aufnehmen möchte, erhält Informationen und Beratung beim Verein „Familien für Kinder“ telefonisch unter 030/2100210 oder via Mail an:

info@familien-fuer-kinder.de, Internet: www.familien-fuer-kinder.de

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