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Italienische Familien auf dem Bahnhof von Wolfsburg in den 1970er Jahren

© imago

Flucht aus der DDR - und heute: Streben nach Glück, Hunger nach Freiheit

Kriege, Umweltkatastrophen, Not: Mehr Menschen denn je sind heute zur Auswanderung gezwungen. Aber es gab und gibt auch die, die ihr Glück suchen. Ein Essay.

"Hier ist es nicht wie bei uns. Die Frau ist mehr, wie soll ich sagen … Die Frau muss im Haus bleiben, muss die Kinder hüten, darf nicht arbeiten. Dagegen hier, das ist eine Sache, die mir besser gefällt, die Freiheit. Bei uns sagt man zum Beispiel: ,Ah, sieh mal, diese Frau arbeitet.‘ Dagegen hier hast du deine Freiheit, verdienst dein eigenes Geld, du hast mehr – wie soll ich sagen? – mehr Möglichkeiten.“

Auch die Gastarbeiterinnengeneration wollte mehr als Jobs

Angela Ruggeri wurde 1955 in der Provinz Agrigento auf Sizilien geboren. Ihrem späteren Ehemann, mit dem sie, erst 19 Jahre alt, im Ruhrgebiet landete, hatte sie schon vor der Eheschließung klargemacht, dass aus ihr und ihm nur ein Paar werde, wenn er sie mit nach Deutschland nehme, wo er bereits arbeitete. Südsizilien und den Vater, der ihr verboten hatte, Friseurin zu werden, und der überhaupt fand, dass seine Frau und die Töchter es „nicht nötig“ hätten zu arbeiten, wollte sie hinter sich lassen.

Erzählt hat Angela Ruggeri ihr Leben vor mehr als 15 Jahren der Historikerin Yvonne Rieker, die eine Geschichte der italienischen Einwanderung in die Bundesrepublik geschrieben hat. In den vielen Interviews, die sie dazu führte, erfuhr Rieker: Sosehr Westdeutschland 1955 ökonomische Gründe für den ersten Anwerbevertrag mit Italien hatte, sosehr es diese Gründe auch aufseiten Italiens gab, wo im Mezzogiorno damals noch bitterste Armut herrschte und wo Regierungschef Alcide De Gasperi den jungen Landsleuten zurief, sie sollten eine Fremdsprache lernen und gehen: In den Erzählungen derer, die den Weg nach Norden antraten, „erscheint die Armut allein aber kaum einmal als Auswanderungsgrund“, schreibt Rieker. Sie sei eine notwendige, doch keine hinreichende Bedingung für die Menschen gewesen, mit denen sie sprach. Zentral sei für sie vielmehr das selbstbestimmte Nein dazu gewesen, „die Weigerung, diese Armut zu akzeptieren“. Oder auch die Hoffnung auf Freiheit, die in Ruggeris Erzählung aufscheint.

Die Opfergeschichten sind nicht die ganze Wirklichkeit

Wir im reichen Norden der Welt haben uns angewöhnt, die, die zu uns kommen, als Opfer zu betrachten, als Menschen, die keine andere Wahl haben als zu fliehen. Vor Kriegen, Hunger, Umweltkatastrophen oder Unterdrückung. Und die Zahlen sprechen für diese Lesart: Ende 2018 waren fast 71 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie nie zuvor. Bereits seit ein paar Jahren sind es mehr als im Zweiten Weltkrieg, und jedes Jahr registriert das UN-Flüchtlingshilfswerk weitere Menschen auf der Flucht. Millionen, die einfach ihr nacktes Leben in Sicherheit bringen wollen und das ihrer Kinder, Eltern, Ehemänner oder -frauen. Doch bildet die Opfererzählung, die auch Grundlage von Asylgesetzen oder Flüchtlingsschutzregelungen wie der Genfer Konvention ist, nur einen, wenngleich riesigen Teil der Migrationswirklichkeit ab – und lähmt oft genug die Debatte um Migration. Der Migrant als Opfer ist sozusagen gemeinsamer Code zwischen rechts und links, zwischen Migrationsskeptikern und -befürworterinnen. Der Opferstatus ist die Voraussetzung oder moralische Begründung, warum nach allgemeiner Auffassung jemand rechtmäßig Europas Grenzen überschreitet oder angeblich dahin zurück gehört, woher sie oder er gekommen ist.

Die anderen hemmen den Fluss dieser Erzählung. Aber es gibt sie: die, die jenseits der Dorf- oder nationalen Grenzen Freiheit suchen, die als junge Männer dem „Padre Padrone“ entfliehen wollen – deutsch: „Mein Vater, mein Herr“, Titel des Films der Brüder Taviani von 1977 –, die sich aus der Faust von Vätern und Bossen winden oder aus dem Moralkorsett steigen, das sie als junge Frauen einschnürt.

Die großen Menschheitsverfassungen anerkennen das Recht aufs Auswandern

Oder Menschen, die ihre Religion leben wollen. Ob Frankreichs Glaubensflüchtlinge, die Hugenotten, die einst Preußen mitaufbauten und in mancher Hinsicht zivilisierten, im modernen Opferdiskurs, erst recht eines weitgehend religiös unmusikalischen Europas, als echte Flüchtlinge gegolten hätten? Schließlich hätten sie abschwören und zur heiligen Mutter Kirche des französischen Staatskatholizismus zurückkehren, einfach Gott einen guten Mann sein lassen können. Oder die „Pilgerväter“, die auch als kulturelle Gründerväter der USA gelten können: Sie waren religiöse Fundamentalisten, im heimischen England des 17. Jahrhunderts Staats(-kirchen-)feinde, um die sich im Deutschland des Jahres 2019 vermutlich der Verfassungsschutz gekümmert hätte.

Die großen Menschheitsverfassungen haben ihren Schluss aus dieser Art von Flucht gezogen: Vom „Streben nach Glück“ spricht die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776, und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen garantiert seit 1948 in Artikel 13 das Recht auf Auswanderung – nicht das auf freie Einwanderung ins Land der eigenen Wahl wohlgemerkt; in dieser Hinsicht waren die Mütter und Väter dieser großartigen Charta pragmatisch. Der im Jahr 2018 so heftig umstrittene UN-Migrationspakt ist das erste globale Abkommen, das die uralte Menschheitstatsache des Wanderns als Ganzes in den Blick nimmt und Menschen zu schützen sucht, die ihre Heimat verlassen haben, egal aus welchen Gründen, und auf ihrem Weg zunächst einmal verletzlich sind, meist ohne hilfreiche Netze und vertraute Umgebung, die sich womöglich nicht einmal verständigen können. Aus allen diesen Gründen werden sie oft Opfer von Ausbeutung, Misshandlung oder überleben die Migration nicht.

Im Kalten Krieg akzeptierte man den Wunsch zu wandern

Der Blick in unser Europa könnte helfen zu verstehen, was aktuell anderswo in der Welt passiert. Schließlich ist unser Kontinent, der so erbittert um Migration streitet und Zäune aus Draht, Stein und aus Überwachungstechnik gegen sie aufbaut, erst seit einem halben Jahrhundert, also praktisch seit einer historischen Sekunde, selbst nicht mehr der Ausgangspunkt von Migration schlechthin. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lösten die afrikanischen und asiatischen Staaten und Lateinamerika Europa ab. Erst seitdem zwingen postkoloniale Konflikte, Rohstoffkriege und Völkermord nunmehr dort die weltweit meisten Menschen zur Flucht.

Auch die anderen Migrantinnen und Migranten, die, die ihr Glück woanders suchen, kamen nie und kommen weiterhin nicht nur aus Europa. Dass die afrikanischen Grenzen, die einst die Kolonialmächte zogen, inzwischen mit Geld und politischem Druck aus Europa noch befestigt werden, verhindert nicht nur die Einwanderung in die Länder im Norden. Es nimmt den Menschen jenes Recht auf Auswanderung, das sie seit Menschengedenken besaßen und das 1948 in Paris für alle Weltbürgerinnen und -bürger feierlich erklärt wurde.

Den ganzen Kalten Krieg über akzeptierte man gleichzeitig auch das Recht auf Einwanderung. Die Menschen, die der Westen als Helden der Auflehnung gegen diktatorische Regime im Osten feierte, die Flüchtlinge aus Ungarn, der Tschechoslowakei, schließlich und etwas weniger auch die vietnamesischen Boatpeople, die sollten schließlich nicht nur ihre Länder verlassen dürfen. Sie brauchten auch Länder, die sie aufnahmen. Und in Westdeutschland erwies sich der Konsens als reißfest, dass man die deutschen Landsleute natürlich mit offenen Armen empfing – womöglich, weil es nicht so viele waren, die es schafften?

Europa braucht Erinnerung an die eigene Migrationsgeschichte

Auch diese politische Heldenerzählung verengt den Blick auf Flüchtlinge. Womöglich sind alle, die ihr Land verlassen, mit diesem Etikett am besten versorgt: Glückssucher. Wobei the pursuit of happiness, das Streben nach Glück, danach, es zu etwas zu bringen, für die meisten eben nicht Geld oder Versorgung durch den Staat bedeutet. Es heißt Freiheit, wenigstens jenes Mehr, das sich Angela Ruggeri in den 1970er Jahren von Westdeutschland versprach: nicht auf Frauenpflichten festgelegt sein, Chancen auf (Aus-)Bildung für sich, mehr noch für die Kinder, die man hat oder will. Das Recht auf Information, demokratische Verhältnisse. Für die allermeisten Menschen, die mehr als ihr nacktes Leben in Sicherheit bringen wollen, sind das – wie wir aus der Forschung und Befragungen wissen – jene „besseren Verhältnisse“, die sie sich wünschen.

Insofern dürfen auch europäische demokratische Gesellschaften darüber streiten, wie viel Einwanderung sie glauben aushalten zu können, was das mit ihrem eigenen Zugehörigkeitsgefühl, ihrem Sozialstaat oder allem zusammen macht. Sie sollten sich aber immer auch ihrer eigenen Migrationsgeschichte entsinnen, deren Zeuginnen und Zeugen sogar noch leben: von den politisch und rassistisch verfolgten Überlebenden des Nazi-Regimes bis zu den „Republikflüchtigen“ der DDR. Sie könnten dabei lernen, dass es oft nicht die Schlechtesten sind, die entweder weite Wege oder große Härten für ein besseres Leben auf sich nehmen.

Dieser Text stammt aus dem Buch "Ständige Ausreise - schwierige Wege aus der DDR", das am 7. August im Berliner Ch. Links Verlag erscheint (Hg.: Jana Göbel und Matthias Meisner). Nicht die - zuweilen spektakuläre - Flucht war der häufigste Weg, der DDR zu entkommen, sondern die Flucht auf dem Papier. Fast 400.000 Menschen haben den "Antrag auf Ständige Ausreise" gestellt. Ebenfalls im Vorabdruck im Tagesspiegel erschien Maris Hubschmids Porträt von Josefine von Krepl. Krepl konnte noch 1989 ausreisen, nachdem sie eine Scheinehe mit einem Westberliner eingegangen war.

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