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Vera Freytag (1987-2018)

© privat

„Fliegen Sie mir nicht davon!“: Nachruf auf eine Totgeküsste

Was für ein Talent! Vera Freytag wusste davon, doch sie traute dem Publikum nicht. Und alt werden? Nichts für Peter Pan!

Von David Ensikat

Du sitzt vor deiner Bewusstseinsprothese, deinem Tor in die Welt, und du begreifst, dass das Tor eine Mauer ist. Mit deinem Computer gelangst du in Welten, liest, was andere geschrieben haben, schreibst, was andere lesen sollen. Manchmal setzt einer einen Daumen drunter, manchmal schreibt dir jemand, dass deine Texte toll sind. Das mag ja stimmen, großartig sind sie. Blöd nur, dass du weißt, dass es so viel Großartigeres gibt. Irrsinnig könntest du werden bei dem Gedanken, dass das, was du kannst, andere viel besser konnten. Schlimm genug, dass deine Lobhudler das verschweigen. Womöglich wissen sie es gar nicht; was zählt dann ihr Lob?

Du schreibst Sätze in deinen Computer und weißt, dass ihre Bedeutung kein bisschen größer ist als der Aufwand, sie wieder zu löschen. Warum sollst du sie stehen lassen? Warum sollst du sie hinschreiben? Warum sollst du dich an die Drecksmaschine setzen? Warum sollst du überhaupt aufstehen?

Vielleicht lohnt es sich ja doch. Und sei es, um sich über Sinnlosigkeit und Mühe zu erheben: „Kannst du bitte den Tisch decken?“ – Unter der Bettdecke: „Ich kann nicht! Ich lebe doch im Bett. Ich brüte. Ich bin Künstler! Proust wäre auch nicht aufgestanden!“

„Da ist Zahnpasta auf dem Boden. Kannst du die Scheiße nicht wegwischen?“ – „Nein! Das soll so! Ich bin Künstler! Schau ihn dir doch an, diesen Fleck! Was glaubst du, wie viel Kraft mich dieses Projekt gekostet hat!?! Ich muss mich jetzt erst einmal ein paar Jahre ausruhen. Dieses Talent ist solch eine Bürde! Ich bin so schwach!“

In der überfüllten U-Bahn: „Entschuldigung!? Entschuldigung! Halloooo! Können Sie vielleicht aufstehen? Sind Sie blind? Sehen Sie nicht, dass ich mit einer Idee schwanger bin?“ (Facebook, 2. März 2017)

Das ist doch das Problem. Der Künstler ist Künstler, weil er Kunst fabriziert. Die anderen sind allerhöchstens Lebenskünstler. Du könntest kotzen bei dem Wort. Was soll das denn sein? Einer, der um des Scheißlebens willen sein Scheißleben führt, und der nur Umwege geht und niemals Wege. Bisschen wenig, oder? Das soll man mal lieber lassen. Etwas mehr gehört schon zur Kunst. Man muss es draufhaben. Man muss es herzeigen. Die Leute sollen mal schön gucken und staunen.

Es gab solche Augenblicke, damals, du mit der Querflöte. Da hast du gezeigt, dass du was kannst. War natürlich Quatsch, gar nichts konntest du, jedenfalls nichts, wofür du dich heute nicht schämen würdest. Die Leute haben gesagt: Schaut, unsere Vera! Die wird’s zu was bringen.

Wenn sie sich da nicht getäuscht haben. In einem halben Jahr werde ich 30. 30! Wie soll man sich dann verhalten, mit der ganzen brodelnden Hirnsuppe ewigen Unfugs? Irgendwelche Tipps und Tricks von Menschen, die sich bereits eine glaubhafte Erwachsenenmaske zurechtgeschnippelt haben? (27. September 2016)

"Aber ich bin doch Peter Pan!"

Heranwachsen. Vernünftig und erwachsen werden. Wer da nicht mitmacht, der fällt auf. Und dann dieser Psychotantenspruch: „Erden Sie sich, Frau Freytag, erden Sie sich! Jetzt stellen Sie sich mal mit beiden Füßen auf den Boden! Fliegen Sie mir nicht davon!“ – „Aber ich bin doch Peter Pan!“ (1. Dezember 2017)

Wie gern du Süßkram in dich reinschaufelst, tütenweise. Das Kind, das kein Morgen kennt, weil es viel zu viel davon noch vor sich wähnt. Und das es überhaupt nicht fassen kann, wenn die Zähne plötzlich wehtun. Der Zahnarztstuhl, Ort der Erkenntnis: Ich bin kein Peter Pan. Wer sagt denn, dass Erwachsensein nur Langeweile und Vernunft bedeuten muss und nicht zuallererst Verfall?

Eine Botschaft war wichtig, damals, als alle Zähne noch ganz waren und die Abschlüsse noch vor dir lagen: Du bist anders als die um dich herum. Beim Querflötespielen standest du auf einem Bein. Der Klang war rau statt vögelchenklar. Du hast dir auch andere Gedanken gemacht als alle anderen.

Jeden Tag nach der Schule habe ich mich ins Krankenhaus begeben und im Wartezimmer auf meinen Papa, den Onkologen und allerletzten Hoffnungsträger der Patienten, gewartet. Saß da, zwischen all den Papierhäutigen, Todgeküssten, jenen Krebszerfressenen in Jogginganzügen, die mich so lieb anlächelten, so sanft in mir ihre Kindheit erkannten, sich erinnerten. Die meisten Menschen verbinden mit Sportklamotten vor allem Gesundheit, Fitness, Vitalität. Ich dagegen musste feststellen, dass sicher die Hälfte aller Menschen in raschelnden Jogginganzügen stirbt. Da versucht man über Jahre in seinen Adidas und Nike Sportklamotten dem Tod davonzulaufen – um zuletzt in derselben Kleidung über dessen Sense zu stolpern. „Just do it!“ (11. Mai 2017)

Und während deine Mitschüler ihre Hirne mit Abiturwissen verklebten, war dir das Wichtigste dein Haar. Rabenschwarz hast du es aufgetürmt, stundenlang. Keine sollte auf den Gedanken verfallen, dass du eine ihresgleichen seist. Gut, im oberpfälzischen Kaff war es nicht so schwer, auf anderen Pfaden unterwegs zu sein als die ganzen Pfadfinder, denen die kürzesten Wege die liebsten sind.

Auf der Suche nach dem Film fürs Leben

In Berlin war das anders. Da gab es ein paar mehr von deiner Sorte, vielleicht weniger talentiert, dafür doppelt so überzeugt von ihrem Talent. Du hast studiert, gejobbt, hast dich verliebt, bist an falsche Kerle geraten, an falsche Substanzen, das ganze Programm, durch das eine Suchende so durchzappt auf der Suche nach dem Film fürs Leben.

Es ist so unfassbar schwer, seinen Platz in dieser verrotteten Welt zu finden. (17. September 2017)

Man kann nicht sagen, dass du es nicht probiert hättest. Studiert hast du, Abschluss in Germanistik, zweimal beworben hast du dich an der Kunsthochschule, umsonst (wie soll man es nicht persönlich nehmen, wenn sie das Zeug, das man sich abgerungen hat, einen Dreck interessiert). Dann die Musik. Hast dir morgens deinen Stellplatz von der BVG zuweisen lassen, hast dich mit der Gitarre hingestellt und es ganz okay gefunden, dass, während du sangst, die Leute an dir vorbeirannten. Denn die Angst war immer da, dass einer meinen könnte, deine Trällerei tauge nichts. Da können Dutzende das Gegenteil beteuert haben. Egal, waren doch nur Freunde. Sieben Lieder hast du bei Youtube hochgeladen, unglaublich eigentlich, denn wirklich zufrieden warst du nie mit ihnen.

Ich hab so viele Ideen, und wenn ich diese in der minimalistischen, einzelkämpferischen Art realisiere, aufnehme, denke ich mir jedes Mal – schön, aber wo ist mein Orchester? Wo ist die Harfe, wo sind die Geigen, die Celli? (10. Juli 2017)

Vera Freitag in ihrem ersten Musikvideo, "Spring", Juli 2016
Vera Freitag in ihrem ersten Musikvideo, "Spring", Juli 2016

© privat

Geschrieben hast du sowieso schon lange. Ein Freund fand, du solltest dich auf eine Lesebühne stellen, dein Talent sei riesig. Wie recht er hatte! Hast’s aber nicht gemacht. War es wieder die Angst vor den Kritikern? Oder auch das Gegenteil: Du schreibst doch nicht für Lesebühnen, auf denen es nur um den schnellen Lacher geht. Du schreibst einen Roman, verdammt! Ein schonungsloses, echtes Ding, nicht sowas Verklemmtes, in Andeutungen Steckenbleibendes.

Der Verlagslektor hat gemeint, dass das was werden kann. Einen Vertrag wollte er dir aber nicht anbieten. Möglich, dass der sich für was ganz anderes interessiert hat als für deine Schreiberei. Über diese Verletzung hast du nicht geschrieben.

Sonst hast du kaum was ausgelassen. Über deine dunkelsten Gedanken hast du so oft berichtet, dass sie kaum einer mehr ernst nehmen mochte. In einem Text über einen Spaziergang mit deiner besorgten Mutter etwa: … und du spielst das letzte bedeutsame Ass, die unverschämte Suizidkarte, aus und beendest endlich den mütterlichen Monolog deines Untergangs: „Mutter, es gibt Menschen in meinem Alter, die bringen sich einfach um! Erdrosseln sich im Schrank und werden von ihren Eltern gefunden. Das ist schlimm! Meine Kündigung ist nicht schlimm. Nichts ist schlimm. Aber das ist schlimm!“ Und sie wird ganz still und vielleicht stellt sie sich vor, wie die Urne ihrer Tochter in den bunten Farben des Kirchenfensters schillern würde. So wird es still, ganz still und lieb, das Muttertier, und akzeptiert die einfache, ungeschönte Existenz ihres bedauerlichen Zeugungsproduktes. Eines Streuners. Straßenköters. (4. Oktober 2017)

Ist auch nicht so, dass du dir nicht helfen lassen wolltest. Du warst in der Psychiatrie, leben lernen, überleben. Aber wenn ein so reflektierter Mensch dahin kommt, einer mit so viel Witz und Charme, dann ist es schwer, die Gefahr zu erkennen, in der er schwebt. Im Sommer 2018 warst du mal wieder da, und sie haben dich nach Hause geschickt. Deine Arbeit im Buchladen, der gute Alltag, würde dir viel besser helfen als die paar Tage oder Wochen unter der Therapieglocke.

Hätte stimmen können. Hast dich ja immer wieder aufgerafft.

Etz bist ja a scho oanadreißig, etz lohnt si da Sprung vo da Klippm eh nimma, etzat konnst an Rest a no minehma, den oidn Scheiß dou. Däi verhurte Scheißexistenz! Zefix! (5. Oktober 2018)

Hat dann aber nicht gestimmt.

Dabei hast du es doch gewusst: Wenn du sterben willst, solange dein Körper noch einigermaßen funktioniert, wenn du wirklich sterben willst, dann nie für dich! Dann stirbst du für die anderen! Und das sollte niemand auf dieser Erde! (27. November 2017)

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