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Berufsflaneur. Der Kreuzberger Martin Schmitz unterrichtet an der Uni das Fach Spaziergangswissenschaften.

© Doris Spiekermann-Klaas

Flanieren mit Martin Schmitz: Die hohe Wissenschaft des Spazierengehens

Der 61-jährige Schmitz ist nicht nur "Promenadologe", der seinen Kiez kennt wie kein Zweiter. Er ist außerdem Künstler, Verleger und Autor.

Die Sonne scheint über Kreuzberg, ideales Spazierwetter und eigentlich könnte es auch gleich losgehen. Aber nicht mit Martin Schmitz, Verleger und – Spaziergangswissenschaftler. Erst muss man noch hoch in seine Wohnung, zu einem kleinen Vorbereitungsseminar für das gemeinsame Flanieren. Schmitz unterrichtet als Professor „Theorie und Praxis der Gestaltung“, er selber nennt das Fach lieber Spaziergangswissenschaft.

Erfunden wurde diese Disziplin, die auch unter dem Begriff Promenadologie bekannt ist, in den Achtzigern vom Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt. Schmitz studierte bei ihm an der Kunsthochschule Kassel, an der er heute selbst unterrichtet. Mehrere Bücher über Burckhardt hat sein einstiger Student inzwischen im eigenen Verlag herausgegeben, um dessen Geschäfte er sich in seiner Kreuzberger Wohnung kümmert.

Spazieren mit einem Profi

Die Spaziergangswissenschaft, so erklärt es Schmitz, ist eine Form der Städtebau- und Mobilitätskritik. Man läuft umher, durchaus ziellos, beobachtet, betrachtet und bewertet dabei das, was einem von Stadt- und Landschaftsplanung in und an den Weg gesetzt wurde.

Was soll dieser Brunnen hier? Warum nimmt der Weg diesen und keinen anderen Verlauf? Weshalb steht da ein Zaun? Prinzipiell gehe es bei seiner Disziplin, so Schmitz, um die Frage: „Wie bewegen wir uns durch die Welt, was nehmen wir dabei wahr, und welchen Einfluss hat beides auf zukünftiges Planen und Bauen?“

Die Runde, die man mit ihm drehen darf – von seiner Wohnung in der Dresdener Straße zum Oranienplatz und in einer Schleife zurück –, ist er bereits unzählige Male gegangen. Und das merkt man. Zu allem hat er etwas zu sagen, zu jedem Hauseingang, jeder Straßenmarkierung hat er sich bereits Gedanken gemacht. Spazieren mit einem Profi. „Man sieht beim Umhergehen letztlich nur das, was man gelernt hat zu sehen“, sagt er.

Er zeigt auf einen Zebrastreifen vor seinem Haus und fragt, was einem dazu einfalle. Eigentlich nichts. Ein Alibi-Zebrastreifen sei das, sagt Schmitz. Er zeigt auf das Schild gleich neben diesem: Tempo 10, fast Schrittgeschwindigkeit. Der Streifen bringe gar nichts und solle nur etwas Fußgängerfreundlichkeit signalisieren, obwohl, so findet Schmitz, alles andere hier am Alfred-Döblin-Platz eher autogerecht gebaut worden sei.

Schmitz ist nicht nur professioneller Spaziergänger, Wissenschaftler und Verleger. Er ist auch Künstler, Autor eines Buchs über Pommesbuden, war Galerist und arbeitete bei der Documenta in Kassel 1987 als Kurator fürs Filmprogramm. Mit seinem Martin-Schmitz-Verlag hat er sich passend zur Professur für ein Orchideenfach einen Namen als Chronist des Abseitigen und Schrägen aus Berlin, aber auch darüber hinaus gemacht.

Ein Buch über Klaus Beyer etwa, den einzig wahren fünften Beatle, der das Gesamtwerk der Fab Four schaurig-schön eingedeutscht hat, ist bei ihm erschienen. Außerdem hat er Werke von und über Berlins Trashfilmkönig Jörg Buttgereit, die Filmemacher Heinz Emigholz, Rosa von Praunheim und den einzigartigen Wenzel Storch veröffentlicht. Und vor allem alle möglichen Sonderbarkeiten aus dem Dunstkreis der Berliner Künstler- und Musikgruppe Die Tödliche Doris. Deren Kopf, Wolfgang Müller, wohne gleich um die Ecke, sagt Schmitz.

"Die Hausbesetzer und Türken waren die besseren Stadtplaner"

Geniale Dilettanten nannte sich die Szene um die Tödliche Doris Anfang der Achtziger, woraus eine ganze subkulturelle Bewegung wurde. Der inzwischen 61-jährige Schmitz, der 1979 nach Berlin gezogen ist und seitdem immer wieder zwischen der Hauptstadt und Kassel pendelte, hatte sich gleich für diese begeistert.

Auch Dank seiner verlegerischen Arbeit erfährt das Schaffen und Wirken der Gruppe heute mehr Interesse denn je. Erst vor ein paar Jahren hat das Goethe-Institut eine Ausstellung über die Genialen Dilettanten um die Welt geschickt. Und das nächste Buch, das im Herbst bei ihm erscheinen wird, werde ein Gesprächsband mit Protagonisten aus dieser Szene sein, so Schmitz.

Eigentlich, so sagt er, habe er immer viel zu viele Exemplare von seinen Büchern drucken lassen. Sie fanden immer nur ein Nischenpublikum und selbst das nur schwer. Doch das wiedererweckte Interesse an allem, was West-Berlin als Mauerstadt besonders in den Siebzigern und Achtzigern ausmachte, komme letztlich auch ihm zugute. Die Bücher aus seinem bald 30 Jahre lang bestehenden Verlag verkauften sich weiterhin stetig. Wer heute mehr wissen will über kultige Berliner Gestalten von damals kommt um das Programm des Verlags kaum herum.

Wir betreten nun einen kleinen Platz, der mit Pollern für den Autoverkehr gesperrt wurde, aber von Radfahrern frequentiert wird. Am Ende des Platzes signalisiert ein Verkehrsschild: Achtung! Spielende Kinder. „Das Schild ist überflüssig“, findet Schmitz, es stehe schließlich nach der Kinderzone und nicht davor. Wer mit ihm unterwegs ist, merkt schnell, wie viel gestalterischen Quatsch es in Kreuzberg gibt.

Ein paar Meter weiter erinnert Schmitz an frühere Autobahnpläne. „Wir stehen hier mitten auf der angedachten Autobahnauffahrt“, sagt er. Ganz Berlin sollte autogerecht werden, „alte Häuser in Kreuzberg flogen auf den Müll, es wurde viel abgerissen“, so Schmitz. „Die Hausbesetzer und Türken aber blieben, sie waren die besseren Stadtplaner“, sagt er. Ihnen habe man zu verdanken, dass Kreuzberg kein Autobahnkreuz ist.

Hier hat Jim Rakete gewohnt, dort hatte Nan Goldin ein Atelier, und in dem Haus wurde Andrzej Zulawskis berüchtigter Film „Possession“ mit Isabelle Adjani in der Hauptrolle gedreht. Schmitz wird beim Spaziergang nicht müde zu erzählen, weiß alles über seinen Kiez, mit ihm spazieren zu gehen ist wie eine Stadtführung unter dem Aufhänger „Das subkulturelle Kreuzberg“.

Bis vor zehn Jahren, sagt er, sei die Spaziergangswissenschaft noch belächelt worden. Inzwischen aber gebe es an ihr auch ein großes Interesse bei Fachleuten und Akademikern aus anderen Disziplinen. Immer mehr würden verstehen, so Schmitz, dass Stadtplanung nicht nur am Schreibtisch stattfinden dürfe, wenn man sie menschengerechter haben möchte. Und er ist sich sicher: „Spazierengehen schafft Schönheit.“

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