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Auf dem Foto ist das Euthanasie-Opfer Anna Lehnkering (links) mit einer Freundin. Sie wurde als "Lebensunwert" vergast.

© privat

Film „Nebel im August“ in Berlin: Die vergessenen Opfer

Seit 2014 gibt es ein Denkmal, das an die "Euthanasie"-Morde erinnert. Und auch an die Zwangssterilisierten, die bis heute nicht als "rassisch Verfolgte" anerkannt sind.

Von Sandra Dassler

„Ich hatte ja keine Ahnung“. Marshall Bush tritt zwei Schritte zurück, schaut auf die blaue Glasfront und vertieft sich kurz darauf wieder in die multimediale Informationstafel. Tafel und Glasfront gemeinsam bilden das Denkmal für die sogenannten Euthanasie-Opfer der Nationalsozialisten. „Sogenannt“ ist in diesem Zusammenhang ein äußerst wichtiges Wort, denn Euthanasie kommt aus dem Griechischen und bedeutet leichter oder gar schöner Tod. Die Nazis wussten, wie man Sprache missbraucht. Hitler hatte schon 1935 von einem „Euthanasie-Programm“ gesprochen, umgesetzt wurde es ab Beginn des 2. Weltkriegs.

Geplant wurde der Massenmord genau hier, in der später abgerissenen Villa der Berliner Tiergartenstraße 4, weswegen das Töten auch Aktion „T 4“ genannt wurde. „Ich hatte zwar schon mal davon gehört“, sagt Marshall Bush: „Aber erst, wenn man hier die Schicksale erfährt, die Fotos der Opfer sieht, ihre Briefe liest, wird einem bewusst, dass das tatsächlich geschehen ist, dass die menschliche Zivilisation so etwas zugelassen hat. Unfassbar.“

Marshall Bush, der in San Francisco als Wissenschaftler arbeitet, hat mit seiner Frau Arlene den Gedenkort gleich neben der Philharmonie nur zufällig entdeckt. „Vom Holocaust-Denkmal haben wir gewusst“, sagt Arlene Bush: „Aber dieses hier muss neu sein.“ Tatsächlich wurde es 2014 eingeweiht – nach langem Kampf auch von Angehörigen der Opfer. Seit 1989 gab es eine Gedenktafel im Boden, die allerdings oft übersehen wurde.

Ernst Lossa.
Ernst Lossa.

© Krankenhaus Kaufbeuren

„Opfer zweiter Klasse“

Mädchen und Jungen einer Schulklasse aus Schleswig-Holstein diskutieren lautstark über die Bedeutung der blauen, etwa 30 Meter langen und drei Meter hohen Glaswand. Die Gymnasiasten haben die „Euthanasie“-Morde der Nazis im Leistungskurs Geschichte behandelt. Mehr als 300 000 Menschen wurden in Deutschland, Österreich und in den besetzten Gebieten getötet: geistig und körperlich Behinderte, psychisch Kranke, Süchtige, Suizid-Gefährdete, Homosexuelle – oder einfach nur sogenannte Unangepasste. Wie Ernst Lossa, der 14-jährige Sohn eines fahrenden Händlers aus der Minderheit der Jenischen. Er war Halbwaise, galt als unerziehbar und wurde mit einer Giftspritze in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren ermordet. Zuvor hatte er immer wieder versucht, anderen Patienten zu helfen.

Der Journalist und Autor Robert Domes hat die Geschichte von Ernst Lossa in seinem Roman „Nebel im August“ mit großer Sensibilität aufgeschrieben. Der gleichnamige Film unter Regie von Kai Wessel läuft derzeit in Berliner Kinos. Und lenkt die Aufmerksamkeit auch auf jene, die manchmal als „Opfer zweiter Klasse“ bezeichnet werden.

Tatsächlich sei dieses Kapitel sehr spät aufgearbeitet worden, sagt der Historiker Robert Parzer. Er ist seit 2010 Redakteur des virtuellen Informationsortes „gedenkort-t4.eu“ und seit 2014 für die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas tätig, die auch die Gedenkorte für die Sinti und Roma, die Homosexuellen und eben die Euthanasie-Opfer betreut.

Thema war jahrzehntelang tabu

Nicht getötet, aber zwangssterilisiert wurden weitere 400 000 Frauen und Männer, darunter viele Jugendliche, die Ärzte als „lebensunwert“ oder „minderwertig“ einstuften. „Noch heute gelten diese Zwangssterilisierten nicht als rassisch Verfolgte des NS-Regimes“, sagt Robert Parzer: „Sie sind also den anderen Opfern nicht gleichgestellt. Das bedeutet nicht nur weniger Geld, sondern ist einfach ungerecht. Zumal es vom Bundesfinanzministerium immer noch mit Gutachten begründet wird, die Anfang der 60er Jahre jene Menschen erstellten, die oft selbst als Ärzte, Psychiater oder Eugeniker in die Verbrechen der „NS-Rassenhygiene“ verstrickt waren. Oder diese zumindest nicht verwerflich fanden.

Erinnerung und Gedenken. Seit 2014 erinnert das Denkmal in der Tiergartenstraße 4 an die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation. Anna Lehnkering (auf dem oberen Foto links mit einer Freundin) wurde mit 24 Jahren als „lebensunwert“ eingestuft und vergast.
Erinnerung und Gedenken. Seit 2014 erinnert das Denkmal in der Tiergartenstraße 4 an die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation. Anna Lehnkering (auf dem oberen Foto links mit einer Freundin) wurde mit 24 Jahren als „lebensunwert“ eingestuft und vergast.

© picture alliance / dpa

In vielen Familien der Opfer war das Thema jahrzehntelang tabu, sagt Parzer. Angehörige schwiegen aus Scham, Unkenntnis, Unsicherheit. „Oft fragt erst die dritte Generation wirklich nach: Wer ist denn diese Frau auf dem Bild? Was ist mit ihr geschehen?“

Bei Sigrid Falkenstein war es ähnlich. Ihr Vater hatte sie gebeten, die Familiendaten zu digitalisieren, bei der genealogischen Suche gab die heute 70-jährige Berlinerin auch den Namen seiner Schwester ein: Anna Lehnkering. Und fand ihn völlig überraschend auf einer Liste von NS-„Euthanasie“-Opfern. „Anhand des Geburtsdatums war schnell klar, dass das meine Tante war“, sagt Sigrid Falkenstein: „Mein Vater erinnerte sich nur bruchstückhaft, erzählte mir, dass er Anna als freundlich und gutmütig in Erinnerung habe. Es gibt ein Foto, wo er als Zwölfjähriger liebevoll und beschützend auf seine Schwester schaut. Ansonsten wusste er nur, dass sie irgendwann in irgendeiner Anstalt gestorben sei.“

In Wahrheit wurde Anna Lehnkering, die lernbehindert war, im März 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck im baden-württembergischen Landkreis Reutlingen ermordet. Vergast – wie mehr als zehntausend weitere Behinderte. In Grafeneck begann mit der „Aktion T 4“ die systematisch-industrielle Vernichtung von Menschen, die letztlich in den Holocaust mündete.

Anna, sagt Sigrid Falkenstein, die ein Buch über ihre Tante geschrieben hat, erfüllte die Selektionskriterien der Mörder perfekt. Sie galt im Sinne der NS-Rassenideologie als „unheilbar erbkrank“, war außerdem „ökonomisch unbrauchbar“, eine „Ballastexistenz“ und „nutzlose Esserin“. Mit einem roten Plus im Meldebogen wurde sie von ärztlichen Gutachtern in Berlin, die sie nicht einmal kannten, als „lebensunwert“ zur Vernichtung bestimmt.

Förderkreis Gedenkort T4 e.V.

Anna wurde nur 24 Jahre alt. Ihr Foto steht heute ebenso wie ihre Geschichte auf der langen Dokumentationstafel in der Tiergartenstraße. Wo eigentlich ein richtiges Informationszentrum entstehen sollte. Dafür reichten aber die vom Bund bereitgestellten 500 000 Euro nicht aus.

Inzwischen hat sich in Berlin der Förderkreis Gedenkort T4 e.V. gegründet. Die Mitglieder treten auch dafür ein, dass Euthanasiegeschädigte nicht vergessen und Zwangssterilisierte endlich als rassisch Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt werden.

Die Geschichten über Ernst Lossa und Anna Lehnkering könnten dabei helfen. Gerade hat der Bundestag entschieden, bei der Holocaust-Gedenkstunde am 27. Januar 2017 die Opfer der NS-„Euthanasie“ in den Mittelpunkt zu rücken.

Marshall Bush aus Kalifornien findet das dringend notwendig. „Die Welt weiß noch zu wenig von diesem Kapitel“, sagt er: „Und es ist sehr, sehr wichtig, dass viele davon erfahren.“

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