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Wer sich nicht in volle Züge quetschen möchte, genießt die weihnachtliche Stimmung lieber in Berlin.

© DAVIDS/Darmer

Fest ohne Familie: Meine erste Weihnacht in Berlin – Zeit für eigene Traditionen

Normalerweise ist es eine Zeit voller Hektik. Nun verbringt unsere Autorin unverhofft ihr erstes Weihnachten in Berlin. Eine Geschichte des Erwachsenwerdens.

Von Corinna Cerruti

Die Festtage der vergangenen Jahre sahen meist so aus: In meiner Heimat in Nordrhein-Westfalen angekommen, gilt es, innerhalb kürzester Zeit so viele Menschen wie möglich zu treffen und dieselbe Story vom Leben in der Hauptstadt wieder und wieder zu erzählen.

Es wird gekocht und gegessen und gekocht und gegessen. Schon satt? Egal! Bei Abfahrt stellt sich dann der Kater ein. Völlig erschöpft und mit mehr Gepäck auf der Ablage und Speck auf den Hüften sitze ich dann wieder im Zug und hole die versprochene Erholung in den nächsten sechs Stunden nach.

Alle Jahre wieder übertrumpfen wir uns in der Gestaltung des Weihnachtsfestes. Dabei gleicht die Weihnachtszeit einem wiederkehrenden Projekt, das ähnlich dem Berufsleben organisiert werden will.

Dazu gehört auch, über den Stress zu klagen, für den man selbst verantwortlich ist, und das zwanghafte Feiern mit Verwandten zu ertragen, die man eigentlich nicht leiden kann.

Nun also 2020 – was machen wir daraus? In diesem Jahr, in dem wie bei allen Plänen auch die Weihnachtszeit unberechenbar wurde: Kein Lockdown, Lockdown light, harter Lockdown – ja oder nein? Wer mit wem – und wenn ja: Wie viele? Die Ministerpräsidenten drucksten herum, mehr und mehr Menschen starben täglich. Söder, Laschet & Co. sprachen lange davon, Weihnachten „retten“ zu wollen.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt heute bundesweit bei mehr als 200. Das Risiko, sich in Berlin oder Nordrhein-Westfalen zu infizieren, ist zurzeit hier wie da besonders groß. Sowohl in meinem Heimatort als auch in den angrenzenden Landkreisen stecken sich täglich sogar mehr Menschen mit dem Coronavirus an als hier in Berlin.

Ich würde behaupten: Gerettet hat hier niemand irgendetwas.

Ausloten, wohin unser moralischer Kompass zeigt

Das ließ uns in den vergangenen Wochen mit der Entscheidung zurück, wie und wo wir die Weihnachtstage verbringen. Wie so oft in diesem Jahr mussten wir jetzt ausloten, wohin unser moralischer Kompass zeigt. Und noch mehr als sonst, schließlich geht es um nichts weniger als das Fest der Liebe.

[Die Toten der Pandemie: Der Tagesspiegel gedenkt der Berliner Opfer und erzählt ihre Geschichten]

Werden wir aus Liebe zu unserer Familie zuhause bleiben, weil wir Angst haben sie anzustecken? Oder fahren wir jetzt erst recht zu unseren Angehörigen, weil wir sie das ganze Jahr nicht gesehen haben? Weil sie uns darum bitten? Weil sie vielleicht nicht mehr lange leben? Weil Mutter oder Vater Heiligabend sonst alleine wären?

Mit Schnelltest und Vorquarantäne bewaffnet unternehmen wir alles Menschenmögliche, um in diesen Zeiten die eingeübte Distanz kurz zu unterbrechen.

Den Wert von Weihnachten zu schätzen wissen

Vielleicht lässt uns diese Situation das Weihnachtsfest wieder neu bewerten: von einem stressigen Konsumfest hin zu einem Fest der Bewusstmachung. Wir betrachten die Beziehung zu unseren Angehörigen neu, wie nah oder fern man ihnen ist und wie wichtig oder unwichtig Streitigkeiten in der Vergangenheit waren.

Den wenigsten wird dieses Fest einfach egal sein, unabhängig von Glauben oder Nicht-Glauben. Wir entscheiden uns ganz bewusst für den Kontakt oder dagegen. Wahrscheinlich wussten wir noch nie so sehr den Wert von Weihnachten zu schätzen.

Nach einigen Schreckmomenten in diesem Jahr, bei denen ich einer Ansteckung nur knapp entgangen bin, hat sich bei mir die Angst vor dem Virus manifestiert. Mir war es unmöglich, so schwer es auch fällt, diese Angst nun zu ignorieren und einfach wie sonst in einen Zug zu steigen.

Weihnachten in Berlin - erste eigene Traditionen

Die Alternative lautet also: Berlin! Und es ist mehr als das: Berlin als Chance. Eine einmalige Chance, ein wirklich besinnliches Fest zu verbringen.

Zum ersten Mal in meinem Leben darf ich gemeinsam mit meinem Freund die Feiertage nach eigenen Vorstellungen gestalten, eigene Traditionen entwickeln. Die Vorbereitungen haben wir nach und nach im Dezember getroffen, ganz entspannt.

Das diesjährige Weihnachtsfest erzeugt so ganz unterschiedliche Gefühle: Bedauern, die Familie nicht zu sehen, na klar. Aber auch Vorfreude. Alleine Weihnachten zu feiern bedeutet für mich auch, ein weiteres Stück Erwachsenwerden.

Corinna Cerruti ist freie Autorin und schreibt regelmäßig für den Tagesspiegel.
Corinna Cerruti ist freie Autorin und schreibt regelmäßig für den Tagesspiegel.

© Kitty Kleist-Heinrich

Es ist Zufall, dass all das mit dem Corona-Jahr zusammenkommt: Mein Studentenleben sich auflöst in einen Berufsalltag, nicht mehr Hausarbeiten, Credit Points und WG-Leben die Themen meiner Freunde bestimmten sondern Verlobung, Häuser und Eigentumswohnungen.

Lebensentwürfe werden gegeneinander abgewogen: In Berlin bleiben oder gehen? Stadt oder Land? Steuern wir schon auf Kinder zu oder ist noch Zeit?

Über all dem steht der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben. Dieses Leben soll den Werten und Einstellungen entsprechen, die wir uns mühsam in unserer Sturm-und-Drang-Zeit erarbeitet haben. Diese Erkenntnis wäre auch ohne die Coronakrise sicher irgendwann gekommen.

Den Blick nach innen richten

Doch gerade diese Krise hat auch mich und meine Generation gezwungen, den Blick nach innen zu richten. Die naive Uniblase ist geplatzt. So wie es mir ganz plötzlich nicht mehr egal ist, welche Möbel in meiner Wohnung stehen, ist es mir auch nicht mehr egal, wie ich das Weihnachtsfest gestalte. Durch Corona ist der Wunsch nach eigenen Traditionen so stark wie nie zu vor.

Im Grunde ist es eine ganz logische Entwicklung: Seit ich in diese Stadt gezogen bin, schwärme ich der Familie, den Freunden in der alten Heimat, jedem, der es nicht hören möchte von Berlin die Ohren voll. Das Wort Heimat verschiebt ganz langsam seine Bedeutung.

Kein Weihnachten wie jedes andere: Unsere Autorin geht lieber auf Nummer sicher und bleibt an Weihnachten in Berlin.
Kein Weihnachten wie jedes andere: Unsere Autorin geht lieber auf Nummer sicher und bleibt an Weihnachten in Berlin.

© Jörg Carstensen/dpa

Den Club der Zugezogenen zu verlassen, der die Stadt über die Feiertage normalerweise fluchtartig verlässt, sie den Ur-Berlinern überlässt, hätte ich mich in normalen Zeiten vermutlich lange noch nicht getraut.

Eine magische Stimmung soll sich in dieser Zeit in Berlin breit machen, schwärmen die Ur-Berliner, die längst in der Unterzahl sind. Vielleicht auch nur so eine Legende. Wie wird es diesmal sein? Bleibt vermutlich alles anders, wie der Rest des Jahres. Wir haben ohnehin keinen Vergleich.

Mein Freund und ich gehören nun ganz offiziell zu den Daheimbleibern – wenn auch ohne Gans – und wir wissen schon jetzt: Für uns wird es in jedem Fall magisch sein. Wenn wir am ersten und zweiten Weihnachtstag durch unseren Kiez spazieren und die Nachbarn treffen, werden wir wissen, dass wir nicht die einzigen sind. Es wird uns trösten über das Vermissen.

[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Die leer gefegten Sehenswürdigkeiten zu Weihnachten, von denen die Berliner jedes Jahr schwärmten, werden wohl eher nicht zu den Höhepunkten der Festtage gehören. Die hatten wir in diesem Jahr zur Genüge für uns allein.

Wie so viele sehnen uns jetzt vor allem nach Ruhe. Nach diesem aufreibenden Jahr soll das Chaos der Welt für ein paar Tage draußen an uns vorbeiziehen. Weihnachten ist schließlich die Zeit der inneren Einkehr. Wie soll man die erreichen, wenn man unter höchster Anspannung immer neu herausfinden muss, ob man nun jemanden umarmen darf oder nicht?

Meine Familie werde ich vermissen. Ich freue mich das angstfreie Wiedersehen im neuen Jahr. Stattdessen wird es ein Weihnachten zu zweit und zu viert, mit Freunden, die ebenfalls in der neuen Heimat bleiben. Zwei Haushalte, wie es die Corona-Regeln vorsehen - vielleicht der Beginn einer Weihnachtstradition.

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