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Baptiste Bockelmann als "Käpt'n Bappe" vom Verein Exeo brauchte - mit Pausen - 35 Tage von Lübeck bis nach Berlin.

© Exeo e.V.

Ferienbetreuer in Corona-Not: "Rettungsfloß" aus Lübeck nimmt Kurs aufs Kanzleramt in Berlin

Nach 35 Tagen Protestfahrt hat das Floß eines Bildungsträgers aus Lübeck die Hauptstadt erreicht. Die eher unterhaltsame Aktion hat einen ernsten Hintergrund

Es waren 35 lange Tage auf dem Wasser für Käpt’n Bappe und sein Team vom erlebnispädagogischen Verein Exeo: Mitte Mai waren sie mit Segen eines Pfarrers in der schleswig-holsteinischen Hansestadt Lübeck und ihrem  „Rettungsfloß“ aufgebrochen. Mit Stopps in Hamburg und viel Wind auf Elbe, Elde und Havel haben sie Potsdam erreicht, wo der Käpt’n am Donnerstag noch eine Prüfung bestehen musste: die fürs UKW-Sprechfunkzeugnis für den Binnenschifffahrtsfunk (UBI). Andernfalls dürfte er am heutigen Freitag nicht zum eigentlichen Ziel der Reise aufbrechen: dem Berliner Regierungsviertel.

Hier will der Verein ab etwa 14 Uhr stellvertretend für alle außerschulischen Bildungsträger und Anbieter von Jugendfreizeiten und Klassenfahrten die Politik auf die besonderen Nöte dieser gemeinnützigen Branche aufmerksam machen. (Filme von der Reise findet man auf Facebook und Instagram unter dem Stichwort #HilfeErleben).

Der Hintergrund der Aktion: Vielen Vereinen und Unternehmen steht das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals, ist die naheliegende Botschaft. Von den einst zwölf Festangestellten und rund 40 freien Mitarbeitern sind bei Exeo bereits etwa die Hälfte abgesprungen, mussten sich andere Jobs suchen. Denn an Klassenreisen, Jugendfreizeiten oder organisierte Teambuilding-Tage, die Exeo auch kommerziell für Firmen anbietet, war seit März wegen der Corona-Pandemie nicht zu denken.

Zwar dürfen auch in Berlin Schulen, Kitas, Kirchengemeinden und Sportvereine ab sofort wieder mit Kindern und Jugendlichen zu Tagesausflügen, Wandertagen und mehrtägigen Reisen aufbrechen, wie Bildungssenatorin Sandra Scheres (SPD) am Mittwoch mitteilte. Aber für einige regionale Anbieter könnte diese wichtige Corona-Lockerung zu spät kommen, sie verlieren Personal und Kunden – zumal eine „Erlaubnis“ der Politik nicht automatisch bedeute, dass die Schulleiter und Sportvereine gleich wieder massenhaft Freizeiten buchen. Corona ist ja noch nicht besiegt.

Viele Schulen überweisen die Storno-Gebühren für Klassenfahrten nicht

Susanne Töpfer, Geschäftsführerin der 2006 gegründeten Kurzzeithelden gGmbH in Berlin-Weißensee, rechnet jedenfalls nicht mit einer schnellen Erholung. Sie hat viele ihrer einst 20 erlebnispädagogischen Mitarbeiter nicht bei der Stange halten können. „Viele mussten sich natürlich andere Jobs suchen“. Und der Umsatz ist eingebrochen: Von circa 150 Klassenfahrten mit teambildenen Aktionen im vergangenen Jahr und rund 100 Teamtagen, bleiben in diesem Jahr noch zwölf Fahrten und nur einzelne Teamtage übrig.

Keines der von Bund oder Land aufgelegten Soforthilfeprogramme werde den Bedürfnissen ihres und ähnlicher Unternehmen gerecht. „Ein Kredit, den wir zurückzahlen müssen, hilft uns nicht“, sagt Töpfer. Dabei sei es für sie schon ein Anfang, wenn die die Senatsbildungsverwaltung die fälligen Stornogebühren – oft nur zehn bis 15 Prozent des ursprünglich vereinbarten Gesamtpreises einer Klassenfahrt – begleichen würde. Viele der gestellten Stornorechnungen seien bisher noch nicht beglichen worden.

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Sozialunternehmer wie die Lübecker von Exeo oder die Berlinerin Susanne Töpfer beklagen weniger ihre persönliche Not, vielmehr argumentieren sie mit dem gesellschaftlichen Schaden, der entsteht, wenn außerschulische Bildungsträger von diesem speziellen Markt verschwinden. Töpfers Kurzzeithelden arbeiten viel mit Schülern und Auszubildenden und haben öfter mit Kindern aus angespannten Lebensverhältnissen zu tun. „Wir sind die sozialen Notärzte. Uns ruft man, um mit unseren erlebnispädagogischen Aktivitäten und Programmen Probleme zu lösen und soziale Kompetenzen zu aktivieren. Nun brauchen wir selbst Hilfe – und wurden aber offenbar vergessen.“

um mit unseren erlebnis-/ pädagogischen Aktivitäten und Programmen Probleme zu lösen und soziale Kompetenzen an zu schieben.

Unter Betreuung des erlebnispädagogischen Programmanbieters Kurzzeithelden gGmbH aus Berlin können Kinder und Jugendliche Herausforderungen erleben - unter anderem an einer Kletterwand.
Unter Betreuung des erlebnispädagogischen Programmanbieters Kurzzeithelden gGmbH aus Berlin können Kinder und Jugendliche Herausforderungen erleben - unter anderem an einer Kletterwand.

© Kurzzeithelden gGmbH

Töpfers gGmbH arbeitet eng mit der Jugendherberge Köriser See in Groß Köris (Kreis Dahme-Spreewald) zusammen, wo Freiwillige aus ihrem Team in den vergangenen Krisenwochen ehrenamtlich bei der Renovierung geholfen haben: An diesem Ort können Kinder unter Anleitung von pädagogisch ausgebildetem Personal Grenzen erfahren – sei es beim Kanufahren, Bogenschießen, dem Klettern im Hochseilgarten, abgesichert durch Mitschüler. Oder mit der Gitarre am abendlichen Lagerfeuer. Eine Sorge vieler etablierter Anbieter ist: Andere – nicht qualifizierte oder gar politisch motivierte – Träger könnten diese Lücke bei den Jugendfreizeiten füllen.

Susanne Töpfer, Gründerin und Chefin des Ferienfreizeitveranstalters Kurzzeithelden gGmbH aus Berlin-Weißensee.
Susanne Töpfer, Gründerin und Chefin des Ferienfreizeitveranstalters Kurzzeithelden gGmbH aus Berlin-Weißensee.

© Kurzzeithelden gGmbH

Denn die Nachfrage nach Betreuung von Kindern und Jugendlichen ist speziell in den Ferienzeiten enorm groß, insofern erfüllen die Träger auch eine volkswirtschaftliche Funktion: Sie ermöglichen Eltern schulpflichtiger Kinder das Arbeiten in den Sommerferien. Ein regional großer Anbieter von Ferienfreizeiten sind die KiEZ-Vereine (Kinder Erholungszentren), die vielerorts im Osten die Freizeitanlagen aus DDR-Zeiten übernommen haben. So hatte das KiEZ Hölzener See im Naturpark Dahme-Heideseen südöstlich von Berlin vor drei Wochen Hunderten Eltern für die Sommerferien absagen müssen, da die Brandenburger Corona-Eindämmungsverordnung eine Betreuung von Kindern unmöglich gemacht hatte.

Potsdam fördert Bildungsfreizeiten - aber nur für Brandenburger Kinder

Am Donnerstag hat die Landesregierung in Potsdam viele der Regeln aufgehoben – so dürfen zum Beispiel wieder mehr als nur zwei Kinder in einem Schlafraum untergebracht werden. Ausdrücklich erlaubt und sogar mit Landesmitteln gefördert werden nun Bildungsfreizeiten. Das freut die Mannschaft beim KiEZ Hölzerner See, ist aber allenfalls ein kleiner Teil der Rettung.

Denn Potsdam fördert nur den Aufenthalt von Kindern aus Brandenburg, der Träger betreut aber traditionell viele Kinder aus Berlin. Hier hat der Senat bisher kein vergleichbares Programm aufgelegt. „Wir hoffen, dass wir in den nächsten Tagen klären können, wie wir damit umgehen“, heißt es im Geschäftsbüro. Ein Problem sei auch hier: Das Betreuungspersonal. Vielen meist jungen Betreuerinnen und Betreuern habe man bereits absagen müssen.

Prominente Unterstützer an Bord des "Rettungsfloßes": Entertainer Olli Schulz (2. von links) und YouTuber Fynn Kliemann (3. von links).
Prominente Unterstützer an Bord des "Rettungsfloßes": Entertainer Olli Schulz (2. von links) und YouTuber Fynn Kliemann (3. von links).

© Exeo e.V.

Am Freitagmittag will „Käpt’n Bappe“, Baptiste Bockelmann, Rettungsaktivist und Lehrtrainer bei dem Lübecker Träger Exeo, an der Zitadelle Spandau aufbrechen und sein nur sechs mal drei Meter kleines Rettungsfloß durch die Schleifen der Spree in Berlin-Mitte steuern – direkt vorbei an den Fenstern des Kanzleramtes, des Bundesbildungsministeriums und den Abgeordnetenbüros des Bundestages.

TV-Prominente wie Reinhold Beckmann und sein Verein NestWerk, Jörg Pilawa, Olli Schulz, Youtuber Fynn Kliemann oder Autor- und Motivationstrainer Christo Foerster hatten der Crew mit Grußbotschaften oder Besuchen an Bord auf der Reise seit Mitte Mai ein wenig Aufmerksamkeit verschafft. Doch ein paar Tausend Euro Spenden und warme Worte werden die reisenden Sozialpädagogen kaum retten.

Käpt'n Bappe Bockelmann und Co. wollen noch die ganze kommende Woche auf dem Floß ausharren, auf Facebook und Instagram über ihre Arbeit berichten und unterstützungswillige Politiker kennenlernen. Sie wollen ihr Floß als „schwimmende Mahnwache“ verstanden wissen. Für Sonnabend, den 27. Juni, haben sie zu einem „gemeinsamen Aktionstag“ auf der Spree in Berlin-Mitte aufgerufen. Berlins Straßen gehören derweil noch anderen Gruppen, die ebenfalls auf ihre Notlagen aufmerksam machen möchten.

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