zum Hauptinhalt
Die Installation "Visions in Motion" und das Brandenburger Tor im Hintergrund.

© REUTERS/Fabrizio Bensch

Feiern zu 30 Jahren Mauerfall eröffnet: „Die Werte von 1989/90 harren noch der Einlösung“

Wendevideos an den Fassaden, eine Großdemo als Performance: Berlin hat die Festivalwoche zu 30 Jahren Mauerfall eröffnet. Doch es geht nicht nur um Party.

So still ist es auf dem Alexanderplatz selten: Hunderte Zuschauer verfolgen am Montagabend, wie das erste Video anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls auf die Gebäude um den Alexanderplatz projiziert wird. In den kommenden sieben Tagen wird es jeden Abend gezeigt – wie auch fünf weitere Videos an fünf weiteren Schauplätzen der friedlichen Revolution und der Wendezeit.

Das Video zeigt nicht nur Bilder von der größten freien Demonstration der DDR, die sich am Montag genau 30 Jahre zurücklag und auf dem Alexanderplatz stattfand. Auch Erich Honecker, damals längst aus dem Amt gejagt, ist an der Fassade zu sehen, zudem Szenen aus dem Fernsehen, die das visuelle Gedächtnis der Wende ausmachen.

Das großflächige Video endet mit einem Sprung in die Gegenwart: mit Meinungen zu „Fridays for Future“, die über den Platz schallen.

Dieser Auftakt der Festwoche zum 30. Mauerfall-Jubiläum bietet nicht nur Anlass zum Erinnern und Würdigen der friedlichen Revolution. Dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), ist er auch Gelegenheit, einen kritischen Blick auf die Gegenwart zu werfen. In seiner Eröffnungsrede auf dem Alex betont er die Notwendigkeit, „sich wieder gemeinsam für die Freiheit zu engagieren“. Gerade Berlin könne und müsse deutliche Signale gegen Gewalt, Diskriminierung und Antisemitismus senden. Dafür gibt es Applaus aus dem Publikum. „Wir kämpfen gegen jede Form der Ausgrenzung“, sagt Müller.

Auch Kultursenator Klaus Lederer (Linke), der zur Eröffnung der großen Installation „Visions in Motion“ am Brandenburger Tor erschienen ist, sagt dem Tagesspiegel: „Die Werte von 1989/90 harren in weiten Teilen noch der Einlösung.“ Der 150 Meter lange, bunte Teppich, der über die Straße des 17. Juni gespannt ist, besteht aus insgesamt 100.000 Bändern. Auf 30.000 von ihnen haben Menschen ihre Wünsche, Forderungen, Hoffnungen und Visionen formuliert. Lederer sagt dem Tagesspiegel, er selbst habe sich „Freiheit, Empathie und Solidarität“ gewünscht. „Dieser Wunsch ist das, was bei mir nach dem Aufbruch vor 30 Jahren übrigbleibt.“

„Ich muss nach Berlin“, sagte die 13-Jährige beim Mauerfall

Nicht nur Politiker erinnern am Montagabend auch an die jüngsten rechtsextremen Gewalttaten und neue Spaltungen in der Gesellschaft. Auch manchen Besuchern ist nicht allein nach Feiern zumute. Birgit Sternberg, die am Sonntagabend die Eröffnung der großen Installation am Brandenburger Tor besucht, sagt: „Ich kann mir zwar eine Mauer zwischen Ost und West nicht mehr vorstellen, aber ich kenne die Bestrebungen, eine Mauer zwischen den USA und Mexiko aufzubauen, und ich kenne die Mauer in Israel.“

Doch auch wenn die Eröffnung der Festwoche nachdenklich stimme, erinnere sie sich auch an die überwältigenden Emotionen des Mauerfalls, sagt Sternberg, die als Pfarrerin für die Johanniter-Unfallhilfe arbeitet. Das Ereignis verfolgte die damals 13-Jährige mit ihrer Mutter im westdeutschen Fernsehen. „Für mich war sofort klar: Ich muss nach Berlin.“ Kurzerhand rief sie sowohl ihren Lehrer als auch ein Busunternehmen an. Am nächsten Tag ging die spontane Klassenfahrt nach Berlin los. „Dort haben wir geheult und Trabis bestaunt“, sagt sie. „Diese Emotionen kommen auch jetzt wieder hoch.“

[Wo waren Sie, als die Mauer fiel? Welche Träume haben Sie begleitet? Erzählen Sie uns Ihre Erinnerungen an den Wendeherbst.]

Nachdenklichkeit und Dynamik vermischen sich

Auch Klaus Kempa, der in Berlin geboren ist, aber schon lange in Niedersachsen lebt, freut sich über das Kulturereignis. „Die Euphorie über das vereinte Deutschland überwiegt“, sagt er. Und der Künstler Patrick Shearn, der den Teppich aus 30.000 Botschaften über die Straße des 17. Juni entworfen hat, freut sich in seiner Eröffnungsrede darüber, „die unglaubliche Ehre zu haben“, ein Werk „in einer so internationalen und offenen Stadt“ umsetzen zu dürfen.

[30 Jahre Mauerfall: Der Tagesspiegel feiert das Jubiläum am 9. November mit einer umfangreichen Sonderausgabe. Bestellen Sie die Zeitung hier kostenlos.]

Nachdenklichkeit und Dynamik vermischen sich bei dieser Festivalwoche schon zu Beginn. Auf dem Alexanderplatz geht es nach den Eröffnungsreden energetisch weiter: Robert Ide, Geschäftsführender Redakteur des Tagesspiegels, leitet über zur Performance von „Panzerkreuzer Rotkäppchen“.

Schauspieler vom Kollektiv "Panzerkreuzer Rotkäppchen" spielen zum Auftakt der Festivalwoche das "Theater der Revolution" auf dem Alexanderplatz.
Schauspieler vom Kollektiv "Panzerkreuzer Rotkäppchen" spielen zum Auftakt der Festivalwoche das "Theater der Revolution" auf dem Alexanderplatz.

© Paul Zinken/dpa

Sie greift die epochale Demo vom 4. November auf, vermengt Wendegeschichte mit aktuellem Geschehen und ist dabei laut und kreativ. Dabei ist die Darbietung nicht entrückt vom Publikum, sondern findet mitten auf dem Platz statt, so wie auch die Festivalwoche die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen soll.

Bis zum 10. November stehen in der Hauptstadt rund 200 Veranstaltungen an Orten der friedlichen Revolution 1989 auf dem Programm, die zum Nachdenken, aber auch zum Feiern einladen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false