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Die Balance halten. Es ist wichtig, sowohl die Bedürfnisse der Kinder als auch die der Eltern zu berücksichtigen. Diese wichtige Regel wurde anfangs oft vergessen, wenn es um Attachment Parenting ging. Und für jede Familie bedeutet sie etwas anderes. Für manche Eltern ist das Tragen von zwei Kindern genau das Richtige, für andere zu viel.

© Getty Images/iStockphoto

Familie: „Kinder sind zwar klein, aber nicht weniger wichtig“

Ist Attachment Parenting antifeministisch? Und wann sind Eltern wirklich liebevoll? Ein Gespräch mit der Autorin Nora Imlau über Erziehungskontroversen.

Man hört immer wieder: Eigentlich machen es doch heute alle Eltern ganz gut. Man brauche keine neuen Ideen mehr in der Erziehung, die Kinder seien zufrieden. Gibt es Ihrer Meinung nach einen Grundkonsens darüber, wie man als Eltern mit Kindern umgeht?

Oberflächlich betrachtet: Ja. Viele sagen: Heute erziehen wir doch alle liebevoll konsequent, mit Grenzen, ohne zu schlagen. Wir brauchen keine Ratgeber. Unser Bauchgefühl reicht. Man müsse nicht mehr an dem „liebevoll konsequenten Ansatz“ herumoptimieren.

Brauchen Eltern heute also noch neue Ideen im Umgang mit ihren Kindern?
Was genau eigentlich ein „liebevoller Umgang“ mit Kindern ist - darüber gibt es viele Meinungen. Und ich glaube, dass viele aus dem Blick verlieren, dass es immer noch viele Eltern gibt, die ihre Kinder hart bestrafen, etwa mit Arrest, oder sie sogar schlagen. Das ist in Deutschland nicht verschwunden. Eltern, die so etwas praktizieren, treten damit nur nicht so stark in der Öffentlichkeit auf. Meiner Meinung nach ist eine liebevolle Grundhaltung und Feinfühligkeit den eigenen Kindern gegenüber das Allerwichtigste. Den Kindern gegenüber die Haltung zu zeigen: Du bist zwar klein, aber das macht dich nicht weniger wichtig als Erwachsene. Eine solche bindungsorientierte Grundhaltung ist aber noch längst nicht konsens. Dafür sehe ich viel zu oft Demütigungen und Herabwürdigungen von Kindern im Alltag: „Sonst gehe ich ohne dich nach Hause“, sagen viele Eltern. Sie meinen, immer besser zu wissen, als das Kind, was es gerade braucht: Ob es gerade Hunger hat. Oder ob ihm kalt ist. Sie sprechen abwertend über die Kinder. Man muss nur mal in den Zoo gehen und dort Eltern zuhören, dann ist man von dem Glauben geheilt, die meisten würden liebevoll mit ihren Kindern umgehen: „Ich werfe dich in den Löwenkäfig, wenn du nicht endlich hörst“, habe ich neulich eine Mutter sagen hören. So lange das so ist, brauchen wir einen Begriff, um zu zeigen dass es auch anders geht.

Meinen Sie damit das Attachment Parenting, übersetzt in etwa „bindungsorientierte Elternschaft“?
Ja. Wenn man so einen Begriff hat, können sich Eltern, die sich mit den Ideen identifizieren, vernetzen und gegenseitig den Rücken stärken. So ist in den letzten Jahren eine Bewegung entstanden.

Was meinen Sie, wissen die meisten Eltern in Deutschland heute, was Attachment Parenting ist?
Nein, der Begriff ist in Deutschland noch nicht wirklich bekannt. Und viele, die ihn zum ersten Mal hören, reagieren intuitiv mit Abwehr: schon wieder so ein Label. Sie sagen: „Bindungsorientiert, was soll das denn bedeuten? Ich habe doch eine Bindung zu meinem Kind.“ Innerhalb einer bestimmten, eher kleinen Community ist dieser Begriff aber sehr wichtig. Es sind eher Mütter, die sich sehr dadurch definieren. Und zwar oft Frauen, die sich vorher sehr mit ihrem Beruf identifiziert haben und eine neue Identität annehmen: Ich bin jetzt Mutter. Dann stellen sie sich die Frage: Aber was für eine Mutter will ich eigentlich sein? In Krabbelgruppen und Stilltreffs merken viele, dass es unterschiedliche Arten gibt, sich dem anzunähern. Dann entsteht da manchmal so eine Lagerbildung. Bindungsorientierte gegen die anderen. In hippen Ecken von Großstädten wie Berlin oder Leipzig ist bindungsorientierte Elternschaft inzwischen tatsächlich Konsens – inklusive langem Stillen, Tragen und dem Familienbett. Wenn man da erzählen würde, dass das Kind von Geburt an im eigenen Zimmer, man wäre ein Alien.

Auf dem Land und in kleineren Städten ist es aber genau anders herum. Viele Frauen schreiben mir Briefe aus Mecklenburg-Vorpommern oder Bayern - die fühlen sich dort wie Außerirdische. Sie werden als "komische Frau, die keinen Kinderwagen benutzt", sondern ihr Baby trägt, schräg angesehen. Die fühlen sich sehr einsam - und identifizieren sich noch stärker mit der Attachment-Parenting-Bewegung. Sie haben ihren Clan im Internet, in Facebook- und Whatsapp-Gruppen. Jeden Abend beim Einschlafstillen treffen sich die Frauen zum virtuellen Lagerfeuer und stärken sich gegenseitig den Rücken.

Was bedeutet Attachment Parenting denn jetzt eigentlich genau?
Der Begriff geht zurück auf das amerikanische Ehepaar William und Martha Sears. Sie ist Stillberaterin und setzte sich schon in den Siebzigern und Achtzigern fürs Stillen ein, als es noch als die schlechtere Alternative zur Flaschennahrung galt. Er ist Kinderarzt. Sie haben acht Kinder. Die ersten waren relativ pflegeleicht, aber dann bekamen sie eins, dass besondere Bedürfnisse hatte. Da haben sie im Umgang mit ihren Kindern einiges geändert. Auch weil sie das Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ von Jean Liedloff gelesen hatten, einer Amerikanerin, die mit Ureinwohnern, den Yekuana, in Venezuela gelebt und dort ihren sehr Nähe betonten Umgang mit den Kindern beobachtet hatte: Wie die Mütter ihre Kinder lange und viel stillen, tragen und neben ihnen schlafen. Die Babys schrieen sehr selten. Für die Amerikanerin war es vorher normal gewesen, dass Babys im eigenen Zimmer schliefen und mit einem Fläschchen gefüttert wurden. Jetzt hatte sie das Gefühl entdeckt zu haben, wie natürliche und wahre Babypflege funktionierte. Ihr Buch erschien in den Siebzigern in Amerika, in den Neunzigern gaben die Sears dem Konzept den Namen „Attachment Parenting“ und schrieben Bücher darüber. Zunächst haben sie die so genannten fünf Baby-Bs festgehalten: „Bonding“ des Babys mit der Mutter direkt nach der Geburt, „Breastfeeding“ (Stillen), „Babywearing“ (Tragen), „Bedding close to baby“ (Familienbett) und „Belief in the language value of your baby’s cry“ (Eltern sollten daran glauben, dass die Schreie eines Babys wirklich etwas zu bedeuteten haben) und später kam noch ’beware of Babytrainers“ hinzu – Vorsicht vor Schlaflernprogrammen und anderen so genannten Babytrainings. William Sears trat in den Neunzigern häufig im Fernsehen auf. Ebenso wie ein anderer Kinderarzt: Richard Alan Ferber. Der propagierte, Eltern sollten unbedingt „Chef“ sein, Kern seiner Ideen war ein Schlaftraining, bei dem Kinder kontrolliert schreien gelassen werden. Zu dieser Zeit kam es zu einer Spaltung der amerikanischen Elternschaft in zwei Lager. Sears war Vorbild für die eine Seite, Ferber für die andere. Er hatte viel mehr Anhänger.

Wann kamen Sie mit den Ideen des Attachment Parenting in Berührung?
Ich habe in Kanada studiert, währenddessen als Babysitter gearbeitet und schnell gemerkt, dass es dort sehr unterschiedliche Philosophien gab, wie man mit Kindern umzugehen hatte. In einigen Familien bekam ich die Anweisung, das Kind ja nicht hoch zu nehmen, wenn es schrie, sondern nur kurz ins Zimmer zu schauen und ein paar Worte zu sagen. In anderen Familien schliefen alle gemeinsam in einem Bett und die wären entsetzt gewesen, wenn ich ihr Kind nicht auf den Arm genommen hätte, wenn es schrie. Da habe ich in der Uni-Bibliothek recherchiert und dann auch Essays fürs Studium darüber geschrieben. Die Idee, Babys schreien zu lassen, fühlte sich damals schon für mich falsch an. Zurück in Deutschland wurde ich dann mit 23, noch als Studentin, schwanger, und begann als junge Mutter für die Zeitschrift Eltern zu schreiben. Ich schrieb dort viele Artikel mit einem bindungsorientierten Ansatz, und zwar als einzige: Übers Stillen und das Familienbett zum Beispiel. So hatte ich damals – vor etwa zwölf Jahren – eine interessante Rolle: Im größten Mainstream-Eltern-Magazin Deutschlands konnte ich vieles, das vorher Konsens war, infrage stellen und Leute mit neuen Ideen konfrontieren. Sonst wurde das nur in einem kleinen Kreis in Internetforen und auf der Webseite rabeneltern.org diskutiert. Es gab auch entsprechend viele verwunderte Leserbriefe. Etwas später habe ich angefangen, Bücher darüber zu schreiben. Den Begriff Attachment Parenting habe ich aber lange vermieden und stattdessen die Wörter „bindungsorientiert“ oder „bedürfnisorientiert“ verwendet.

Warum das?
Ich würde nie sagen, dass Sears und ich insgesamt für dieselben Werte stehen: Sears war zu der Zeit, als er die Bücher über Attachment Parenting geschrieben hat, evangelikaler Christ. Er hat in diesem Zusammenhang auch problematische Dinge über Homosexualität und Abtreibung gesagt und geschrieben. Und ihm geht es auch darum, dass Frauen die von Gott vorgesehene Mutterrolle erfüllen – auch wenn er das nicht in dem bekanntesten Attachment-Parenting-Buch schreibt. Ich finde es eine schwierige Frage, ob sich jemand so selbst als Ratgeber disqualifiziert. Aber die Ideen gehen ja nicht nur auf ihn zurück. Auch andere haben darüber geschrieben. Und Babys wurden rund um den Globus in vielen Kulturen immer so behandelt. Wie die meisten Befürworter von Attachment Parenting würde ich mich eher auf die aktuelle Bindungsforschung stützen, etwa die der Psychologin Fabienne Becker-Stoll. Die amerikanische Organisation Attachment Parenting International hat auch nichts mit evangelikalen Meinungen zu tun. Sie setzen sich hauptsächlich dafür ein, dass Kinder in Amerika nicht mehr geschlagen werden. Dort ist es noch in allen Bundesstaaten erlaubt. Spätestens mit dem ersten Attachment Parenting Kongress 2014 in Hamburg war der Name für die bindungsorientierte Szene im deutschsprachigen Raum dann aber auch gesetzt. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich damals mit den Oganisatorinnen noch über alternative Namen diskutiert habe, die nicht den direkten Bezug zu Sears aufmachen würden, um zu vermeiden, dass der ganze Kongress als radikal-evangelikale Veranstaltung wahrgenommen wurde. Aber „Kongress für bindungsorientierte Elterschaft“ klang einfach zu sperrig und unattraktiv. Und plötzlich galten alle, die in Deutschland über bindungsorientierte Elternschaft schrieben, als die „deutschen Attachment-Parenting-Vertreterinnen“ - auch wenn wir selbst den Umgang mit Kindern, für den wir einstanden, bis dahin lieber als „geborgen“ , „liebevoll“ , „bedürfnisorientiert", „bindungsfreundlich" oder „artgerecht“ bezeichnet hatten. Mit den sieben Baby-B und der respektvollen Grundhaltung des amerikanischen „Attachment Parenting“ können wir uns aber alle identifizieren.

Zuletzt gab es im Zusammenhang mit der Diskussion um den umstrittenen Film „Elternschule“ eine Welle der Kritik an „missionarischen“ „Bindungsvertrerinnen“, die einer „heiklen Theorie“ anhingen und es nicht schafften, ihren Kindern Grenzen zu setzen – etwa von der ZEIT und vom WDR. Es gehe nur um Lifestyle, schicke Babytragen, ein Geschäftsmodell für Autorinnen wie Sie. Es wird auch kritisiert, dass Attachment Parenting antifeministisch sei und Mütter so zur Selbstaufgabe gedrängt würden. Warum ist bindungsorentierte Elternschaft für manche so ein Feindbild?
Das hat verschiedene Gründe. Es ist leicht, Mütter als Lifestyle-Tussis darzustellen, die immer nur die nächste Babytrage vorstellen. Ursprünglich hat sich an dem Evangelikalen Sears niemand gestört. Irgendjemand, der sowieso dagegen war, hat den rausgekramt und so die Achillesferse gefunden. Mittlerweile ist Sears übrigens Katholik. Die Kritik, bei der es um die Selbstaufgabe der Mutter geht, hat aber einen wichtigen und wahren Kern. Es darf nicht sein, dass es dem Baby super geht, aber die Mutter geht am Stock. Deshalb hat Sears nachträglich noch ein siebtes Baby-B hinzugefügt, dass leider oft vergessen wird: Balance and Bounderies (Grenzen). Dabei geht es vor allen um eine gesunde Balance der Bedürfnisse von Kindern und Eltern. Es ist eine ganz wichtige Ergänzung. Als das Konzept nach Deutschland rübergeschwappt ist, ist das oft vergessen worden. Das hat bei einigen Müttern tatsächlich zur völligen Selbstaufgabe geführt. Viele haben auch nicht verstanden, dass stillen, tragen und das Familienbett nur Werkzeuge sind, um eine gute Bindung aufzubauen – es geht aber auch ohne sie. Es gibt viele Wege, die Bedürfnisse von Kindern – und Eltern – zu stillen. Vor allem darf man dafür nicht in starren Regeln denken.

In Deutschland tragen auch viele, die sich mit Attachment Parenting identifizieren, ihre Haltung sehr vor sich her. Nach dem Motto: Schaut her, wir sind die guten Eltern. Wir sind die Einzigen, die wirklich wissen wie es geht.

Grund ist oft, dass sie sich angegriffen und isoliert fühlen und so zum Gegenangriff übergehen. Dass es das Feindbild Attachment Parenting gibt, liegt aber auch an Bloggerinnen und Instagrammerinnen, die online ein sehr perfektes Familienleben inszenieren. Sie zeigen ständig, wie sie wieder alle Verhaltensweisen ihrer Kinder „geduldig begleitet“ haben - geschmückt mit schönem Holzspielzeug. Als normalsterblicher Mensch guckt man sich das an und fühlt sich defizitär. Man bekommt das Gefühl: Da gehört so viel dazu, wenn man alles richtig machen will: keine Kinderbetreuung bis vier oder fünf, ökologisch und vegetarisch essen. Viele sind genervt von diesem sich selbst erhöhenden Bild, das einige unter dem Label „bindungsorientiert“ von sich zeichnen. Wenn ich selbst nach der Arbeit bei Aldi vorbeihetze, passt so ein perfektes Bild nicht zu mir.

Wie steht es mit dem Vorwurf, Eltern, die sich an Attachment Parenting orientieren, würden ihren Kindern nicht genügend Grenzen setzen?

Grenzen. Das ist ein ziemlich weiter Begriff, der im Zusammenhang mit Erziehung ziemlich überstrapaziert wird. Dass so oft gesagt wird, man müsse Kindern Grenzen setzen, liegt vor allem an dem Autor Jan-Uwe Rogge, der als Erziehungspapst der Neunziger und als Ikone der autoritativen Erziehung gilt.  Bei Jesper Juul geht es auch oft um Grenzen, aber nicht darum, sie zu setzen, sondern Kindern zeigen, welches unsere Grenzen sind. Worauf es auch dabei ankommt, ist allein die liebevolle Grundhaltung und die Feinfühligkeit den Kindern gegenüber. Dass man nicht ihr Verhalten sanktioniert und damit ihre Integrität verletzt. Dass man nicht willkürlich Grenzen setzt, sondern die auf natürliche Weise vorhandenen den Kindern gegenüber vertritt: „Ich bin zu müde zum Vorlesen.“ Und nicht: „Du hast beim Zähneputzen getrödelt, deshalb lese ich dir nicht mehr vor.“ Das ist für mich eine bindungsorientiert Grundhaltung. Und dass man anerkennt: Mein Kind erlebt auch viele natürliche Grenzen. Mein zweijähriger Sohn merkt zum Beispiel gerade, dass er die Sonne nicht am Untergehen hindern kann. Dass der Tag irgendwann vorbei ist. Er hat ganz schön damit zu tun, mit seinem Ärger darüber umzugehen. Ich glaube tatsächlich, dass viele Eltern unter der Flagge der Bedürfnisorientierung übers Ziel hinausschießen und nicht mehr oft genug „Nein“ sagen. Es gibt viele Menschen, die stoßen auf Bindungsorientierung, weil sie selbst gewaltsam mit vielen Strafen erzogen wurden und selbst alles anders machen wollen, aber dabei das Kind mit dem Bad ausgießen.

Warum ist die Diskussion um Attachment Parenting und Bindungsorientierung ausgerechnet jetzt und zwar anlässlich des Films "Elternschule" so hochgekocht? In dem Film, der gerade in den Kinos lief, ging es ja eigentlich um das Programm einer Kinderklinik, die Kinder mit Ess- und Schlafproblemen sowie mit Neurodermitis behandelt - das allerdings mit Methoden wie dem schon erwähnten Schlaflerntraining, Essenszwang und schreien lassen, die auch von Experten als fragwürdig angesehen werden. Sämtliche Rezensenten von der Süddeutschen Zeitung über die ZEIT bis zu katholischen und evangelischen Nachrichtenagenturen sahen darin allerdings Methoden, die sich alle Eltern ruhig zum Vorbild nehmen sollten.

Mich wundert das nicht. Die Idee von Schlaflernprogrammen nach Ferber war ja in den Neunzigern State of the Art. Vorher haben ihre Eltern ihre Kinder auch schreien lassen, aber dieses Schlaftrainig war für viele die Verkörperung des liebevollen, aber konsequenten Stils. Schließlich brachte man seinen Kindern eine neue Fähigkeit bei: Schlafen. Wer es nicht machte, der wurde damals oft schief angesehen. Mittlerweile sind diese Programme sehr in Kritik geraten, aber gesamtgesellschaftlich nicht verschwunden. Die Zeitschrift Eltern macht regelmäßig eine Umfrage dazu: 2007 haben noch 30 Prozent der Eltern angegeben, ein Schlaflernprogramm anzuwenden, oder das zumindest ernsthaft in Erwägung zu ziehen. 2017 waren das nur noch neun Prozent. Viele Eltern gaben an, dass sie das Gefühl hätten, die Grundbedürfnisse ihres Kindes zu ignorieren, wenn sie es kontrolliert schreien ließen. Darin sieht man, dass bindungsorientierte Ideen in den Mainstream eingesickert sind, ohne dass sich eine Mehrheit der Eltern mit der Bewegung identifiziert.  An anderen sind solche Entwicklungen aber komplett vorbeigegangen - und es gibt immer wieder einen Backlash. Meine Theorie ist, dass in vielen Redaktionen Ressortleiter, die Eltern waren zu einer Zeit, als autoritative Erziehung der Standard war, sie hängen noch an ihrer Weltsicht von vor 30 Jahren, finden junge Eltern überspannt. Es ist so leicht auf Attachment Parenting einzuhauen und immer die gleichen Klischees aufzuwärmen, über sich aufopfernde Mütter mit Tragetuch. Wenn man nach solchen Müttern sucht, wird man sie finden. Menschen, die eher in der Großelterngeneration sind, klopfen sich dann auf die Schulter, dass sie es schon richtig gemacht haben, damals mit ihren Kindern, auch ohne diese ganzen neuen Ideen.

Was mich am aber meisten besorgt, ist die Grundhaltung, die in dem Film "Elternschule" gezeigt wird: Kinder seien nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Kindern sei es scheißegal wie es ihren Eltern geht. Sie wollten nur der Boss sein. Eigentlich geht es bei der Diskussion um zwei Schulen der Entwicklungsforschung, die sich gegenüberstehen: Behaviorismus und Bindungsforschung. Psychologen lernen diese beiden Schulen im Studium kennen. Die Erziehung des 20. Jahrhunderts stand zum größten Teil unter dem Schirm des Behaviorismus, bei dem es darum geht, dass jedes Wesen auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Um es zu einem sozialen Wesen zu machen, muss man es durch Konsequenzen formen - wie bei einem Hund. Erziehungsratgeber im gesamten 20. Jahrhundert basieren auf dieser Idee. Erwünschtes Verhalten muss demnach belohnt werden. Unerwünschtes ausgemerzt - durch Ignoroieren und Bestrafen. Dazu muss man sagen: Behaviorismus hat wahren Kern - jeder Mensch hat einen Selbsterhaltungstrieb und jedes Wesen ist auf Lust aus. Und die Grundidee dieser Art, zu erziehen, bestätigt sich selbst: Kinder lernen tatsächlich aus Angst vor Konsequenzen. Und so entwickelte sich dieser Grundgedanke: Wenn man das so nicht macht, geht alles in die Binsen, dann wird das Kind nicht zum sozialen Menschen.

Dann kam die Bindungsforschung mit einem revolutionär anderen Ansatz daher, der besagt, dass der Mensch nicht nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Dass wir alle mit anderen Menschen kooperieren wollen: Kinder wollen mit ihren Eltern und anderen Bezugspersonen kooperieren. Wenn ihre Bedürfnisse erfüllt werden, kopieren sie von ihren Eltern Verhaltensweisen, und zwar ganz ohne Strafen und Belohnungen, weil sie den inneren Drang spüren, ein Teil der Gemeinschaft zu werden. Es gibt inzwischen viele gut fundierte Beweise, dass das nicht nur eine Theorie ist. Dass Kinder sich so psychisch gesund entwickeln. Aber diese Art des Lernens braucht Zeit und funktioniert nicht immer so schnell und gradlinig wie das Erziehen beim Behaviorismus. Lehren und Verstehen, warum man etwas nicht machen sollte - das ist natürlich anspruchsvoller für Eltern und Kinder. Und viele Eltern haben zwischendurch die Sorge: Und wenn mein Kind jetzt doch zum Tyrannen wird?

Aber auch wenn wir, die sich für bindungsorientierte Elternschaft stark machen, ausgelacht und in komische Ecken gestellt werden – wir müssen weitermachen. Mein größter Wunsch ist, dass wir das Label „Attachment Parenting“ irgendwann nicht mehr brauchen. Dass bindungsorientiertes Elternsein doppelt gemoppelt ist. Dass wir an dem Punkt ankommen, an dem das der normale Umgang mit Kindern ist. Dass wir mit Kindern nichts mehr machen, was wir mit Erwachsenen nicht auch machen würden. Aber bis es soweit ist, brauchen wir solche Labels, um darauf hinzuweisen, dass nicht alles das Gleiche ist. Dass nicht alles, was sich liebevoll nennt, auch wirklich liebevoll ist.

Nora Imlau, 35, ist Journalistin und Autorin von acht Büchern über den Umgang mit Babys und größeren Kindern. Sie hat drei Kinder und lebt in Leipzig. Zuletzt erschien von Nora Imlau (gemeinsam mit Sabine Pfützner) „Babybauchzeit. Geborgen durch die Schwangerschaft und die Zeit danach“ (Beltz) und „So viel Freude, so viel Wut. Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten“ (Kösel). Das Interview führte Daniela Martens.

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