zum Hauptinhalt
Mama oder Mutti. Das ist immer noch eine Ost-West-Frage. In Berlin gibt es für beide Anreden etwa gleich viel Begeisterung – auch wenn vielen bei „Mutti“ als Erstes Angela Merkel einfällt.

© picture alliance / Helmut Fohringer

Familie: Frau Mutter oder Auchmama

Wie Kinder ihre Eltern ansprechen, ist sehr unterschiedlich. Es hat viel mit Rollenmustern und Traditionen zu tun.

Papsilein, Pappel, Mimi, Mutsch, Mamuschka – oder einfach der Vorname: Wie Kinder ihre Eltern ansprechen, das ist in jeder Familie anders. „Der Älteste fing irgendwann an, mich statt mit Mama mit dem Vornamen anzusprechen – ohne Erklärung“, erinnert sich eine Mutter von drei inzwischen erwachsenen Kindern. Die beiden jüngeren Geschwister hätten das nachgemacht. Nur in Konflikten tauchte „Mama“ wieder auft, etwa in „Mama, ich will aber!“. In ihrem Freundeskreis sei es in vielen Familien ähnlich gelaufen. „Einzelfälle, kein Trend“, entgegnet Lutz Kuntzsch von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden über das „Beim-Vornamen-Nennen“ der Eltern – auch wenn das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern heute viel partnerschaftlicher geworden ist.

In Berlin liegen Mama und Mutti Kopf an Kopf

Vor ein paar Jahren veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag der Deutschen Presseagentur die Ergebnisse einer repräsentativen online durchgeführten Umfrage: Mit dem Vornamen werden nur zwei Prozent der Eltern angesprochen. Es ist offenbar eine Marotte aus den Siebzigern, die sich doch nicht recht durchgesetzt hat. Der Trend geht auch weg von „Mutti“, dafür boome „Mama“, heißt es weiter in der Studie, aber die Ost-West-Verteilung erweist sich auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer als stabil: 57 Prozent der Kinder in den alten Bundesländern reden ihre Mutter mit Mama an, 22 Prozent bevorzugen Mutti. In den neuen Bundesländern ist es genau umgekehrt. 55 Prozent sagen Mutti, 24 Prozent Mama. Im ehemals geteilten Berlin liegen Mutti und Mama heute mit jeweils 38 Prozent Kopf an Kopf. Die sozialistische Mutti aus DDR-Zeiten überdauerte im Lied „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“, während Heintje in der BRD seine „Maaamaaa“ besang – und so leben Mama und Mutti, genau wie Papa und Vati, bis heute in friedlicher Koexistenz.

Die eingangs erwähnte Mutter, die lange von ihren Kindern beim Vornamen genannt wurde, sagt: „Jetzt, wo sie erwachsen sind, nennen sie mich wieder Mama.“ Dass die kumpelhafte Anrede beim Vornamen sich nicht durchgesetzt hat, liegt vielleicht auch daran, dass sie eher nicht zur unmittelbar einleuchtenden Klarstellung verhilft, wer der Erwachsene und wer das zu erziehende Kind ist. Denn es geht dabei um mehr als Worte: Mit der Art der Anrede manifestiert sich auch die Art der Beziehung zwischen Eltern und Kindern – und die ist nun mal asymmetrisch. „Kinder sind keine Partner“, schimpfte der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff im Deutschlandfunk, „Papa ist Papa. Wer das nicht versteht, riskiert, dass Kinder unreif bleiben und im Leben scheitern.“ Und der dänische Familientherapeut Jesper Juul sagt: „Ein Kind, das seine Eltern beim Vornamen nennt, ist genau genommen ein Kind, das keine Eltern hat.“

Es fehlen die Worte für neuere Familienkonstellationen

Doch Familie ist heute oft mehr als Vater-Mutter-Kind: Die Zahl der Halbgeschwister steigt, es gibt immer mehr Exfrauen und Exfreunde. Ein Drittel aller Kinder unter 18 Jahren wächst nicht mit beiden Eltern auf und lebt entweder nur mit der Mutter oder mit deren neuem Freund zusammen. Aber uns fehlen die Worte dafür: Einelternfamilie, Patchworkfamilie oder gar multiple Elternschaft sind dürre Notbehelfe der Soziologenzunft, die kaum für den Alltag taugen. Elternteile, Lebensabschnittsgefährten oder Scheidungswaisen sind hässliche Begriffe, die nicht die Lebenswirklichkeit von Kindern und ihren Erwachsenen beschreiben und oft negativ besetzt sind. Vor allem „Stiefmutter“ klingt irgendwie böse. „Falschvater“, „Auchmama“ oder liebevoll „Pappel“ – es sind oft die Kinder, die sich in der Wortnot zu helfen wissen und sich neue Anredeformeln ausdenken.

Der Wandel der Anreden innerhalb und außerhalb der Familie ist ein dankbares Thema für die Forschung. Ein Zweig der Linguistik untersucht, wie verwandtschaftliche Sozialbeziehungen ausgedrückt werden, die nicht mehr ausschließlich durch Blut- und Heiratsverwandtschaft zustande kommen. Auch veränderte Rollenmuster und eine voranschreitende Individualisierung wirken sich auf Anredeformen aus.

Für holländische Familien ist das Siezen der Älteren normal

Die Kinder in den Bürgerfamilien des 19. Jahrhunderts siezten ihre Eltern als Respektspersonen ganz selbstverständlich. „Mutter“, das indogermanische Urwort in vielen europäischen Sprachen, ist etwa 2500 Jahre alt. Geduzt werden Mutter und Vater aber erst seit ungefähr hundert Jahren, nachdem sich die Idee durchgesetzt hat, dass es so etwas wie Kindheit gibt, in der enge Beziehungen eine größere Rolle spielen sollten als Autorität und Gehorsam. „Frau Mutter“ und „Herr Vater“ wirken heute völlig veraltet und sogar lieblos. Und so sorgte der ehemalige Bayerntrainer Louis van Gaal, ein Niederländer, für Aufsehen, als er öffentlich verkündete, er lasse sich von seinen Töchtern siezen: „Ich finde es gut, wenn ein Abstand da ist. Ich bin der Freund meiner Kinder und sie lieben mich. Aber ich bin eine andere Generation und das müssen sie wissen“, sagte er im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vor einigen Jahren. Allerdings ist das niederländische „Sie“ nicht dasselbe wie das deutsche. Wenn es angewandt wird, geht es nicht so sehr um Distanz und mehr um Ehrerbietung. Für holländische Familien ist das Siezen der Älteren ein Ausdruck von Respekt und bis heute gang und gäbe.

Auf spanisch kann das "Sie" Ausdruck der Zärtlichkeit sein

Auch in anderen Sprachen gibt es mehr Möglichkeiten der Anrede als im Deutschen: Das Spanische kennt etwa die Möglichkeit, ein und dieselbe Person mit unterschiedlichen Pronomen anzusprechen, je nach emotionalem Zustand: Ärgert sich eine Mutter beispielsweise über ihr Kind und schimpft, kann sie es kurzfristig mit „usted“ (also: Sie) anreden, dem sogenannten „usted de enojo“ (das „Sie“ der Wut). Es gibt auch ein „usted de cariño“ (das „Sie“ der Zärtlichkeit): Wenn man jemandem zeigen möchte, wie gern man ihn hat, kann man von „tu“ auf „usted“ wechseln.

Im Deutschen steht das Duzen in engem Zusammenhang mit Verwandtschaft. Kinder können erst im Einschulungsalter zwischen „du“ und „Sie“ unterscheiden, daher wird das primär erlernte „du“ mit der Vertrautheit in verwandtschaftlichen Beziehungen assoziiert. Das Duzen außerhalb der Familie impliziert eine familienähnliche Beziehung wie Freundschaft, Liebe oder Gleichheit. Heute offerierten Eltern den Freunden ihrer Kinder nicht selten schon nach dem ersten Spielnachmittag die Anrede mit Vornamen und Du – wenn sie nicht ohnehin schon ganz selbstverständlich von den Kindern geduzt werden, denen man heute weder in der Familie noch in der Schule die grammatischen Finessen des Siezens fremder Menschen abverlangen möchte.

Die jüngere Generation ist wieder förmlicher geworden

Der Zeitgeist erlebt also den Vormarsch des „du“, aber das „Sie“ verfügt über ein stabiles Hinterland. Experten registrieren in den letzten Jahren eine leise Sehnsucht und stille Rückkehr zur Höflichkeitsform. 1993 sagten noch 59 Prozent der 16–29-Jährigen, sie gingen schnell zum Du über. Zehn Jahre später waren es weniger als die Hälfte. Allen „Ey Alter, chill mal“-Klischees zum Trotz: Vor allem die jüngere Generation ist im Vergleich zu den achtziger und neunziger Jahren wieder förmlicher geworden.

Dazu könnte die Nachricht passen, dass amerikanische Hipster-Eltern von ihren Kindern neuerdings nicht mehr mit „Mom“ und „Dad“ angesprochen werden wollen, sondern mit dem im englischen antiquierten „Mama“ und „Papa“ – oder gar einem „Mamá“ oder „Papá“ mit der Betonung auf der zweiten Silbe, einer Koseform, die in den USA vor 150 Jahren aus der Mode kam. Das berichtet die amerikanische Website „The Daily Beast“ und versteht die gewünschte Anrede durch die Kinder auch als eine Möglichkeit für heutige Eltern, sich von ihrer eigenen Elterngeneration abzuheben und eben nicht das Bild von den typisch amerikanischen Vorstadt-Mom-and-Dads aufzurufen.

Gerlinde Unverzagt ist Journalistin und Buchautorin. Unter anderem erschien von ihr „Selber fliegen! Warum Kinder keine Helikoptereltern brauchen“.

Gerlinde Unverzagt

Zur Startseite