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Exklusiver Buchauszug: Auch die Wowereits waren Migranten

Integration braucht Mut, davon ist Klaus Wowereit überzeugt. Er skizziert in seinem neuen Buch eine weltoffene Gesellschaft, weil nur eine Teilhabe aller Menschen die Zukunft Deutschlands sichere. Ein Auszug aus dem Buch, das am Freitag auf der Buchmesse vorgestellt wird.

Die Wowereits haben einen Migrationshintergrund. Meine Mutter ist in Ostpreußen aufgewachsen, wo meine Oma fast wie eine Leibeigene auf einem Gut gearbeitet hat. Sie kam als Wirtschaftsflüchtling nach Berlin, wo sie sich ein besseres Leben erhoffte. Unser Familienname „Wowereit“ stammt aus dem Litauischen und lässt vermuten, dass auch unsere Vorfahren schon mobil waren. Als Sohn einer alleinerziehenden Kriegerwitwe passte ich eigentlich nicht ins bürgerlich geordnete Lichtenrade. Dennoch bin ich ein Integrationserfolg. Meine Schule, unsere Nachbarn, diese Stadt, Deutschland haben mir zahlreiche Chancen gegeben. Ich habe Möglichkeiten zum Einstieg und zum Aufstieg bekommen. Und ich habe einige davon genutzt.

Als Kind habe ich allerdings auch erfahren, wie es ist, wenn man ausgegrenzt wird. Die Frage der Lehrer nach meinen Familienverhältnissen bedeutete jedes Mal eine Qual. Ich schämte mich meiner Herkunft nicht, dennoch litt ich darunter. Aber ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Ich weiß: Integration ist anstrengend, sie geschieht nicht von allein. Integration erfordert guten Willen von allen Beteiligten. Und sie braucht Ausdauer.

Meine Mutter war mein Vorbild: Sie hat unentwegt gekämpft, als kleine städtische Angestellte, als Mutter von zwei Töchtern und drei Söhnen, einer davon im Rollstuhl. Sie hat jeden Morgen aufs Neue losgelegt, wenn sie noch vor der Arbeit Blumen und Gemüse geerntet hat, um ein paar Mark zusätzlich zu verdienen. Wenn man als Schüler zum Kohlenhändler geht und das Heizöl nicht gleich bezahlen kann und dann jeden Monat wieder hingeht, um jeweils hundert Mark abzustottern, und die Verkäuferin jedes Mal fragt, ob wir uns das denn auch leisten können – dann sind das Erfahrungen, die ein Kind treffen. Aber von meiner Mutter habe ich gelernt, dass man sich nicht hängen lassen darf. Den Willen, es aus kleinen Verhältnissen auf die Oberschule, von dort zur Universität zu schaffen, habe ich von meiner Mutter geerbt. Die Chancen hat mir eine sozialdemokratische Politik gegeben, die an Integration durch Bildung geglaubt hat.

Das Geheimnis lag darin, dass wir beide wollten: Das Land wollte mich und ich wollte nach oben. Damit ist eines der Geheimnisse um erfolgreiche Integration bereits gelüftet: Armut, Diskriminierung, Einsamkeit, Heimweh, Traumatisierungen sind halbwegs zu ertragen, wenn die realistische Aussicht auf eine bessere Zukunft besteht, wenn ehrliche Anstrengung und ehrliche Anerkennung zusammenkommen.

Daher ist es höchste Zeit für eine Integrationspolitik mit einer ehrlichen politischen Prioritätensetzung auf Bildung, Qualifizierung und Arbeit. Natürlich ist es möglich, mehr Menschen eine Perspektive zu geben und den Grundstein für sozialen Aufstieg zu legen – egal welcher Herkunft. Wir brauchen Motivation statt Sanktion, Anreize, Angebote und Aktivierung statt Alimentierung. Der Konsens lautet: Jeder, der sich anstrengt, darf mitmachen.

Lesen Sie auf Seite 2: Integration ist weder Gnade noch Service-Veranstaltung

Klar ist: Integration ist nicht mal eben nebenbei mit ein paar flotten Thesen zu erledigen. Integration lässt sich auch nicht als Projekt für einen bestimmten Zeitraum an einen Dienstleister delegieren, der eines Tages meldet: Aufgabe erledigt. Integration kann sich nur bedingt gesetzlich verordnen lassen. Integration ist vielmehr eine Haltung, die basiert auf einem humanistischen, demokratischen, vor allem aber sozialdemokratischen Menschenbild. Integration vereint Grundgesetz und SPD-Programm: Keiner darf zurückbleiben. Zugleich haben sich alle Beteiligten Mühe zu geben. Integration bedeutet Arbeit, auf vielen Ebenen, aber auch Gewinn: Der lateinische Ursprung des Wortes Integration steht für „ergänzen, erneuern, vollständig sein, geistig auffrischen“, kurz: für Zukunft.

Integration ist die soziale Gestaltungsfrage im 21. Jahrhundert. Es geht nicht nur um Arbeitsplätze, sondern um alle Bereiche des Lebens: von der Kita bis zur Altenpflege, von Pisa bis Gentrifizierung, von der Emanzipation bis zur Gesundheitsvorsorge. Grundwerte, Tradition und Verantwortungsgefühl machen es der Sozialdemokratie zur Pflicht, diese Zukunftsaufgabe offensiv anzugehen. Integration ist eine kulturelle Errungenschaft, die den zivilisierten Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, der Gegenentwurf zum kalten Darwinismus, wo die Stärksten, Brutalsten, Lautesten und Listigsten gewinnen.

Ich wünsche mir, dass jeder, der wirklich will, seine Chance zum Aufstieg bekommt – jeder nach seinen Wünschen, Träumen und Begabungen. Ich bin auch deswegen Politiker geworden, weil ich Menschen beim Mitmachen unterstützen will. Ein- und Aufstieg ist der Schlüssel zu erfolgreicher Integration von Menschen, ganz gleich welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religion.

Integration ist weder vom Staat gewährte Gnade noch reine Service-Veranstaltung, sondern eine alltägliche Fertigkeit, die das Zusammenleben in modernen Gesellschaften erst ermöglicht. Die Berliner Realität spiegelt dieses moderne Miteinander wider: Berlin hat über 3,4 Millionen Einwohner. Etwa die Hälfte der Bevölkerung hat sich seit der Wende ausgetauscht – Menschen kamen, Menschen gingen.

Über 870 000 Berlinerinnen und Berliner haben einen Migrationshintergrund – das entspricht mehr als einem Viertel. Fast die Hälfte davon hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Die meisten Kinder besitzen inzwischen einen deutschen Pass, viele aber haben ausländische Wurzeln. Fakt ist: Eine Trennung zwischen „echten“ Deutschen oder „waschechten“ Berlinern und „den anderen“ ist überhaupt nicht mehr möglich. Der Blick an das Klingelschild eines beliebigen Berliner Miethauses zeigt: Hier wohnen viele verschiedene Menschen. Ihre Namen haben kaum noch Aussagekraft. Entscheidend ist vielmehr: Wer erhält die Chance zum Mitmachen in unserer Gesellschaft?

— Klaus Wowereit: Mut zur Integration – für ein neues Miteinander. Vorwärts-Buch, 166 Seiten, ISBN 978-3-86602-945-3, Preis: 10 Euro. Infos: www.vorwaerts-buch.de

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