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Bora Ćosić, 84, stammt aus Zagreb und lebt in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman „Konsul in Belgrad“ (Folio, Wien).

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Europa - mein scHmERZ: Was mich an Europa bindet

Er hat Europa nie verlassen, aber trotzdem immer über den Tellerrand geschaut. Der Schriftsteller Bora Ćosić über Europas Erbe - und die Schuld, die daraus erwächst.

Und sei es in der Liebe – wer sich bindet, begibt sich immer auch in Zwänge. Gebunden an das Objekt der eigenen Gefühle, ginge es einem besser, hofft man, aber die Wirklichkeit löst das häufig nicht ein. Menschen können, wenn man es genau nimmt, keine „reinen“ Bindungen eingehen, jedes Mal bringe ich einen Teil von mir in die kleinere oder größere Gemeinschaft ein und gebe freiwillig eine ordentliche Portion Souveränität auf. So sehe ich die Beziehung zwischen dem Individuum und seinem Umfeld.

In dem eben skizzierten Sinn bin ich nicht an Europa gebunden; ich bin vielmehr von Natur aus Europäer, verwachsen mit europäischem Boden, auf ihm geboren, auf ihm werde ich wohl sterben. Ich, der ich jeden Winkel Italiens erkundet habe, der sich in Coimbra so zu Hause fühlt wie in Breslau, der ich Brügge so gut kenne wie Barcelona, ich habe trotz aller Verheißungen moderner Verkehrsmittel den Kontinent nie verlassen, und es besteht kaum Aussicht, dass ich das noch nachhole. Die Wikinger mögen schon vor langer Zeit um die Welt gesegelt sein, ich halte es da lieber mit Kant, mit einem allerdings etwas größeren Radius.

Mich bindet an Europa eher das, was Europa an die Menschheit ringsum bindet: die steinalte, kluge Strategie, sich alles anzueignen, was außerhalb Europas an Wissen und Fertigkeiten entsteht, und es für sich selbst zu übernehmen. Der russische Zar Peter der Große öffnete einst ein Fenster zu Europa und gewährte Europa damit Einblick in die sagenumwobenen Schätze Asiens. Der resolute Herrscher war keineswegs der Erste, die alten Griechen machten es vor, schon Gorgos, Empedokles und erst recht der „dunkle“ Heraklit wussten, dass das „attizistische“ Denken zum guten Teil auf „asianischer“ Weisheit, Erfindungsfreude und Poetik beruht.

Die Begriffe hat einer bekannt gemacht, der ebenfalls über den europäischen Tellerrand schauen konnte, Gustav René Hocke. Er lehrte uns, dass unser Stolz auf die Weisheit und Schöpferkraft der antiken Völker auf dem Boden dieses Kontinents kaum gerechtfertigt wäre, wäre diesen Männern nicht bewusst gewesen, dass sie nicht allein sind auf der Welt und dass es Ältere und Bessere gegeben hatte.

Europas Schuld gegenüber den nichteuropäischen Völkern

Das ist es, was jener Teil der Europäer verstanden hat, der die Unglücklichen unter den nichteuropäischen Völkern mit offenen Armen aufnimmt, während jene, die in den angekommenen Flüchtlingen eine Horde abgerissener Lumpen und Terroristen sieht, keine Ahnung von ihrer eigenen Geschichte haben. Ich bin allerdings auch nicht der Erste, der in der mutigen Politik der Dame im Haus mit der Chillida-Skulptur die Begleichung einer Schuld sieht, zu der Europa der außereuropäischen Welt gegenüber verpflichtet ist.

Wir stehen in der Schuld für das, was unser europäischer vom asiatischen und ägyptischen Geist in der Architektur erbte, in den schönen Künsten und vor allem in dem, was Quintilian unter Fantasie verstand – abwesende Dinge so zu zeigen, als hätte man sie direkt vor Augen. Für das, was Breton als Grundlage des gewaltigen europäischen Fantasmas sah, im Surrealismus. Und es muss sich doch einmal herumsprechen, dass sämtliche Musikinstrumente bis zu Bach in Asien erfunden wurden, dass Bewässerungsanlagen, Baukunst, Mechanik dort ihren Ursprung haben, dass die Kraft des Surrealen und Unvernünftigen in der Kunst von dort kommt, so sahen es Kasimir Malewitsch, Dsiga Wertow, Alfred Jarry.

– Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert

Bora Ćosić

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