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Lächle doch mal. Nein, nicht so. Anders!

© Getty Images

Erziehung: „Hört auf, eure Kinder zu fotografieren!“

Stell dich da mal rüber! Guck nicht so komisch! Eltern zwingen ihre Kinder, als Fotomodell herzuhalten. Und züchten damit Narzissten heran.

Ein Spielplatz in Prenzlauer Berg. Eine Mutter, geschätzt 40, Trenchcoat, weiße Turnschuhe, zieht ihr Mädchen, geschätzt vier, vom Klettergerüst. Sie zückt ihr Handy. Dann fordert sie die Tochter auf, stehen zu bleiben und zu lächeln. „Komm, mach mal.“ Die Kleine hat offensichtlich keine Lust, will lieber toben. Verständlich, doch Mutter hält sie fest. „Komm schon. Die Oma soll doch mal sehen, wie die neue Jacke aussieht.“

Das ist alles so verkehrt, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

Klar, natürlich kann man sich bedanken, wenn die Oma eine neue Winterjacke geschickt oder Mützen gestrickt hat. Aber doch nicht so! Mal davon abgesehen, dass diese Zigtausende von Fotos, die da entstehen, später niemand mehr anguckt – was bringt ihr euren Kindern bei?

Erst mal, dass auch auf dem Spielplatz das Smartphone den Rhythmus vorgibt. Wird es gezückt, hat man stehen zu bleiben. Egal, ob man gerade Fangen spielt oder mit den Freunden Prinzessin und Ritter: König iPhone hat die Hoheit. Spielen? Freunde? Rennen? Müssen warten.

Das Kind ergab sich in sein Schicksal

Es kam aber noch schlimmer: Das Kind resignierte irgendwann und ergab sich seinem Schicksal, während die anderen weitertobten. Die Mutter war immer noch nicht zufrieden. „Nein, nicht so. Guck mal nicht so komisch“, dirigierte sie. „Dreh dich so, stell dich mal da rüber. Lehn dich mal da an.“ Erst als das Kind anfing zu posieren, gab sie Ruhe. Fünf Minuten dauerte das Theater. Dann durfte die Kleine auf die Rutsche, wo bereits eine andere Mutter – Väter beobachte ich seltener bei so was – ihrem Sohn zeigte, dass Kinder in ihren Augen nicht zum Spielen auf der Welt sind, sondern als Fotomodelle. „Das sah gerade so cool aus“, jauchzte sie, das Telefon schon im Anschlag.

Der Kleine, vielleicht fünf Jahre alt, kannte das Spiel offensichtlich schon. Er brauchte keine Anweisung, wusste, was gefordert war: Kopf neigen, Schmollmund, Arm in die Hüfte. Zur Belohnung gab es ein Küsschen von Mama. Dann durfte der Knirps den Freunden hinterher. Hach, Pawlow wäre stolz gewesen.

Wo die Narzissten herkommen? Ihr züchtet Sie heran!

Während Mama dann das Bild über wer weiß welchen Dienst an weiß Gott wen verschickte, auf dass es für immer und ewig in den Serverbanken weiterlebt, wo es Google, Facebook und Co. als Übungsmaterial für eine Gesichtserkennungssoftware dient, musste ich mich zusammenreißen, sie nicht anzufahren: Ihr fragt euch, wo die ganzen Narzissten herkommen, die Instagram und Youtube vollmüllen? Ihr züchtet sie gerade heran!

Denn was lehrt ihr? Die eigenen legitimen und natürlichen Bedürfnisse haben zu warten, wenn die sozialen Bezugspersonen finden, dass man jetzt eine Show für die Kamera abziehen soll. Und: Gemocht wird man nicht, wenn man ehrlich ist, sondern nur, wenn man Theater spielt. Millionen künftige Lehrer, Arbeitgeber, Therapeuten und Partner werden es euch danken!

Liebe Eltern, wenn ihr denkt: Wow, mein Kind sieht so cool aus, dann freut euch über diese Erfahrung und speichert den Moment je nach Charaktertyp in euren Herzen oder Hirnen, aber nicht auf euren Sim-Karten. Und jetzt lasst verdammt noch mal eure Kinder in Ruhe spielen. Die Jacke von Oma könnt ihr auch noch auf dem Weg nach Hause fotografieren.

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