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Berlin: Ernst Weidlich (Geb. 1916)

„Jetzt rede ich, also schweigt die Welt“

Ein neues Kleid, ein Paar modische Schuhe? Wozu? Ernst Weidlich hielt von derlei flüchtigen Dingen nichts: Die reine Verschwendung!, erklärte er seinen Kindern. Das Geld für ein Wörterbuch, für eine Theaterkarte, für Klavierstunden, das gab er aus, ohne zu zögern. Bildung, sagte er, darauf komme es an.

Denn Bildung hatte er vermisst im ersten Teil seines Lebens. Lehrer wäre er gern geworden, aber die wenigen Jahre auf der Volksschule, die Inflation, der frühe Tod seiner Mutter, der betrunkene Vater am Gashahn hantierend, den der Sohn wieder zudrehen musste, der Zweite Weltkrieg – für Bildung blieb da wenig Zeit. Erwähnte er seine Lehrzeit bei einem Rohrleger, sprach er von „Kost und Keile“, die ihm dort zuteil wurden, beschrieb wie er frostharte oder aufgeweichte Erde durchgraben musste, eine erschöpfende, schmutzige Arbeit. Er erzählte von Therese, die er, unterwegs auf Montage, in Eberswalde traf, 1938 heiratete, 1938 wieder verließ, weil er zum Arbeitsdienst musste und dann in den Krieg

1945 geriet er in englische Gefangenschaft auf der Insel Jersey, arbeitete dort auf den Feldern und tauschte seine Zigarettenration gegen ein Dictionary, prägte sich nach und nach die Wörter ein, bis er genug kannte, um andere Soldaten zu unterrichten. 1946 stand er wieder in der Berliner Wohnung. Seine beiden Kinder schauten ihn scheu an, seine Frau verdiente das Geld. Aber jetzt war er ja da, jetzt nahm er die Zügel in die Hand. Er bog Eimer aus Zink, mit denen er ins Umland fuhr, um sie bei Bauern gegen ein Stück Wurst, ein wenig Butter oder Brot einzutauschen.

Er fand eine Anstellung als Installateur und lernte am Abend nach der Arbeit in der Zweizimmerwohnung, in der manchmal sieben Menschen lebten, für seine Prüfung zum Meister. Gelegentlich erschien er im Blaumann und mit Rohren auf dem Fahrrad auf dem Schulhof, um sich bei den Lehrern nach dem Fortkommen seiner Kinder zu erkundigen.

Wenn der Sohn Klavier übte und hörte, wie der Vater zur Tür hereinkam, dann wurden seine Hände feucht und rutschten mit Sicherheit an der zigmal geprobten Stelle auf die falsche Taste. Der Vater stellte sich dann hinter den Jungen und mahnte, sich ein wenig mehr noch zu mühen. Aber Strenge und Strebsamkeit galten nicht allein den anderen. Als ihm, hochbetagt schon, ein ebenfalls bejahrter Bekannter den Satz „Ich habe mein Leben lang gearbeitet, jetzt reicht es“ sagte, erwiderte er energisch: „Auch im Alter hat man Pflichten zu erfüllen!“

Er selbst hatte die Meisterprüfung absolviert, ein Installateurgeschäft in Schöneberg übernommen, einen eigenen Laden in Friedenau eröffnet und Meisterschüler in der Handwerkskammer ausgebildet. Und obgleich Geld nun nicht mehr fehlte, warf er es nie zum Fenster hinaus, kaufte sich kein Haus, kein teures Auto.

Aber ein Klavier. In der zweiten Hälfte seines Lebens begann er all das nachzuholen, was er in der ersten versäumt hatte. Mit seinen schweren Arbeitshänden lernte er, vorsichtig über die weißen und schwarzen Tasten zu gleiten. Er sah alle Stücke im Schillertheater. Er las Tucholsky, Ringelnatz und Kästner. Er lernte jeden Tag ein Gedicht, probte die Rezitation mit dem Diktiergerät und rief dann Freunde, die Geburtstag hatten, an, um ihnen das Poem zum Vortrag zu bringen. Er schlug jedes fremde Wort nach. Er ging in die Stadtbibliothek, auf der Suche nach einer Ballade, deren Titel ihm entfallen war, stellte sich vor die Bibliotheksdamen und deklamierte einige Zeilen. Die Damen dachten einen Moment nach und brachten ihm dann den gesuchten Gedichtband. Er liebte es, Reden zu halten. Bei seiner letzten, in einem überfüllten Restaurant, war es ihm zu laut. „Jetzt rede ich“, rief er, „also schweigt die Welt.“

Ebenso gut jedoch konnte er zuhören, den kleinen Philosophen nannten ihn die Herren aus der Gesprächsrunde vom Sozialwerk. Dort folgte er jedem Wortbeitrag zunächst konzentriert und formulierte danach seinen wohlüberlegten Kommentar. Und weil Kopf und Körper voneinander nicht zu lösen sind, turnte er, lief, auch im Winter, bis zu seinem 88. Lebensjahr, schwamm jeden Morgen tausend Meter.

Therese, seine Frau, erlitt einen Schlaganfall und musste in ein Pflegeheim. Dort besuchte er sie zwei Mal an jedem Tag, bis sie ihn allein ließ. Die Gespräche mit anderen Menschen, in seiner Theosophenrunde, im Sozialwerk, mit seinen Kindern, waren danach noch unentbehrlicher. Jeden Sonntag kaufte er 15 Rosen, die er jeden Montag, ob die Sonne schien oder Schnee fiel, an seine Tochter, seine Schwiegertochter, die Nachbarin und die Zahnärztin verteilte, auch dann noch, als seine Beine schwächer und schwächer wurden. Er sah nicht ein, dass er ein gebrechlicher Mann geworden sein sollte, und musste schließlich selbst ins Heim. Dort stürzte er, weil er sich nicht helfen lassen wollte.

Ernst Weidlich liebte Beethovens 9. Sinfonie, hörte sie jedes Jahr in der Philharmonie und begann immer zu weinen, wenn es hieß: Brüder – überm Sternenzelt / muss ein lieber Vater wohnen. Am 3. Januar 2011 saß er zum letzten Mal im Konzertsaal und weinte vom Anfang des Stücks bis zu seinem Ende. Tatjana Wulfert

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