zum Hauptinhalt
Fazit: Die Fahrbahn fühlt sich sicher an - sofern man nicht versucht, die Spur zu wechseln und sofern kein Autofahrer mutwillig drängelt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Erlaubt - und gefährlich?: Mit dem Fahrrad über den Kaiserdamm

Auf dem Kaiserdamm darf man seit 2012 radfahren. Aber kaum einer tut es, weil es zu gefährlich ist. Oder etwa nicht? Ein Selbstversuch auf der Ost-West-Achse.

Die Reise ins Krisengebiet führt durch Berliner Alltag: Auf dem blau beschilderten, also benutzungspflichtigen Radweg am Theodor-Heuss-Platz biegt eine Audi-Fahrerin rechts ab in die Ahornallee und schaut nicht über die Schulter. Mit einer Vollbremsung fast bis zum Handstand lässt sich der Unfall vermeiden. Die Frau fährt weiter, hat nichts mitbekommen. Wieder mal gut gegangen. Danke, Ihr Fahrrad-Felgenbremsen, Ihr wart echt super. Wie jeden Tag.

Danke auch der Frau im Audi für die eindrucksvolle Bestätigung, dass dieses Experiment nötig ist: Zweimal vom Theo zum Ernst-Reuter-Platz und zurück, einmal auf dem Radweg und einmal – Achtung! – auf der Fahrbahn. Die dürfen Radler neuerdings nämlich legal benutzen, weil ein Anwalt die Verkehrslenkung des Senats gezwungen hat, geltendes Recht umzusetzen und die meisten der Schilder an Kaiserdamm und Bismarckstraße zu demontieren. Die entsprechende Meldung fuhr im Online-Forum des Tagesspiegels 165 Kommentare ein. Mal sehen, ob die Emotionen auf der Straße ebenso überschäumen wie im Internet.

Die Frage ist durchaus relevant für all jene Radler, die regelmäßig von Westend oder Spandau her in die City müssen und längst wissen, dass der Kaiserdamm als Direktverbindung, nun ja, alternativlos ist. Aber ist es auch alternativlos, auf knapp zwei Metern Breite über angebröselte Granitplatten zu rumpeln und jederzeit mit plötzlich aufgerissenen Autotüren, kreuzenden Fußgängern und schwer bepackten Lieferanten zu rechnen und an jeder Einmündung vor unaufmerksamen Abbiegern zu zittern? Noch dazu auf dieser Route, auf der kein Geringerer als der „Europaradweg R1“ verläuft?

Die ersten Meter fühlen sich unheimlich an, aber bei flotter Fahrt richtig gut: Freie Sicht bis zum Fernsehturm, leichtes Gefälle. Es ist Freitagvormittag, die Stoßzeit durch, der Strom der Autos wider Erwarten aus der Nähe viel weniger bedrohlich, als er vom Radweg aus schien. Woran das liegt, wird vor dem Messedamm klar: Hier zwingt nach wie vor ein Schild zur Benutzung des Radweges. Schwupp, steckt man wieder in dem optischen Tunnel zwischen geparkten Autos und Straßenbäumen. Es ist spürbar, wie viel schlechter man hier für die anderen zu sehen ist. Ein enormer Nachteil des Radweges, dessen Ausmaß erst im Kontrast zur übersichtlichen Fahrbahn richtig klar wird. Die Verkehrslenkung begründet den Radwegzwang vor dem Messedamm mit dem starken Abbiegeverkehr in Richtung Autobahn, der „eine Separierung der Radfahrer aus Verkehrssicherheitserwägungen“ erfordere.

Nicht fluchen, ist ja nur ein Experiment.

Als makabres Gegenargument steht ausgerechnet hier eines der vom ADFC aufgestellten „Geisterräder“: Im September 2012 wurde eine 64-Jährige von einem rechts abbiegenden Lkw überfahren. Interessante „Verkehrssicherheitserwägungen“ sind das, deren Ergebnis nach einem tödlichen Unfall lautet, dass alles so bleiben muss, wie es ist. Der Anwalt, der auch die Demontage der anderen Schilder veranlasst hat, hat Widerspruch gegen diese Ausnahme eingelegt, die praktisch alle Zutaten für weitere solche Unfälle enthält. Zwar soll irgendwann der Radweg an die Straße geschwenkt werden, aber einen Termin dafür gibt es laut Verwaltung noch nicht.

Hinter dem Messedamm geht’s legal weiter auf der Straße – das gute Gefühl kehrt zurück, die Autos rollen ruhig vorbei. In einem Anflug von Übermut wird der Schwierigkeitsgrad erhöht: Linksabbiegen in die Schlossstraße. Dazu müssen drei Fahrspuren gequert werden. Kaum Verkehr von hinten, also Hand raus, umschauen, aufpassen. Ein gerade erst aus der Esso-Tankstelle gestarteter Smartfahrer hat keine Lust, drei Sekunden für Radfahrers Spurwechsel zu opfern. Er müsste gar nicht bremsen, nur den Fuß vom Gas nehmen. Tut es ganz kurz – und zieht dann so dicht vorbei, dass sein Spiegel fast die herausgehaltene Hand berührt. Der Fahrer des Lieferwagens eine Spur weiter links schaut demonstrativ genervt, aber lässt Platz. Nicht fluchen, ist ja nur ein Experiment. Niemand hat die Absicht, eine neue Hackordnung zu errichten, jedenfalls nicht hier und jetzt.

Ab jetzt geht’s geradeaus weiter bis zum Ernst-Reuter-Platz. An der Kaiser- Friedrich-Straße ist der Radweg bereits für wenige Meter so an die Straße heran- verlegt worden, dass sich Autofahrer und Radler besser sehen. Es ist die Stelle, an der 2004 der neunjährige Dersu auf dem Schulweg von einem rechts abbiegenden Lastwagen überrollt wurde, dessen Fahrer den Jungen hinter der Mutter auf dem damals noch nicht umgebauten Radweg übersehen hatte.

Weil gute Sicht so wichtig ist, lässt der Senat auf immer mehr Hauptstraßen Radfahrstreifen markieren. Für die Achse durch Charlottenburg sei das nicht geplant, heißt es auf Nachfrage. Es bleibt bei zehn Spuren für die Autos. Ein Postbote sagt, er bleibe mit seinem Rad immer auf dem Gehweg. „Das ist doch hier ’ne Autobahn.“ Er wisse, wovon er rede, denn er fahre mit dem Auto zur Arbeit.

Vor dem Ernst-Reuter-Kreisel gilt wieder Benutzungspflicht. Zeit, die 3,2 Kilometer zurück zum Theo zu fahren. Soweit erlaubt, erneut auf der Straße, auf der allerdings viele Zweite-Reihe-Parker zu Linksschwenks zwingen. So schnurrt der überraschend klar gefühlte (und von Statistiken im Allgemeinen belegte) Sicherheitsgewinn der Fahrbahn gegenüber dem Radweg wieder zusammen. Zwar hatte ein vorab befragter Unfallexperte versichert: „Von hinten karrt einen niemand um.“ Der Mann im Citroen, der auf Höhe Meerscheidtstraße pöbelnd und hupend extra knapp überholt, würde wohl gern. In seiner Wut sieht er nicht, dass zu seiner Linken zwei weitere Spuren zu seiner Verfügung stehen. Beschränkte Sichtverhältnisse sind wirklich gefährlich im Verkehr.

Zur Startseite