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Rabbiner errichten 2012 eine Chanukkia zur Vorbereitung der Chanukkawoche in Berlin. In diesem Jahr beginnt Chanukka am 28. November.

© AFP

Erinnerung an Pogromnacht 9. November 1938: „Warum reden wir von ,Juden’ und von ,Deutschen’?“

Unzählige Male wird in diesem Gedenkjahr wieder gedacht und getrauert. Zu Recht. Aber wie erreicht die offizielle Gedächtniskultur noch die Generation der Nachnachgeborenen? Eine Diskussion mit Berliner Schülern. Über die Pogromnacht am 9. November 1938 – und die Scherben der deutschen Geschichte.

Splitter der Erinnerung. Die drei Worte stehen neben dem Bild einer geborstenen Schaufensterscheibe. Es ist das Titelbild des Tagesspiegels vom 31. Oktober 2013 und zeigt eines der Motive, das auf Fotofolien nun im November in den Auslagen von über 100 Läden und Kaufhäusern in Berlin zu sehen ist. Am vergangenen Mittwoch haben Dorothee Wein und Bernd Körte-Braun, zwei Wissenschaftler der Freien Universität (FU), die Zeitungsseite an die Wand eines Seminarraumes der FU in Berlin-Dahlem projiziert.

„Was fällt euch zu dem Bild ein?“, fragt Körte-Braun die Anwesenden. „Na, die Splitter, das meint diese Zerstörungen der Nationalsozialisten“, sagt Artur. „Damals durften die Deutschen mit den Juden alles machen“, ergänzt Emil, „sie schlagen, ihre Geschäfte verwüsten, ihre Sachen rauben und so.“ Es geht um die Scherben der deutschen Geschichte. Um die Pogromnacht am 9. November vor 75 Jahren, die damals auch „Kristallnacht“ genannt wurde, wie Natascha weiß. „Weil so viele Fenster zu Bruch gingen“, meint Johanna. „Nur Fenster?“, fragt Dorothee Wein, und auf der Wand erscheint das nächste Bild.

Die Seminarteilnehmer an ihren Arbeitstischen sind keine Studenten. Artur, mit Zahnspange, ist 15 wie Emil, Johanna ist 14 und Natascha 16 Jahre alt – sie fügt mit einem Lachen an, „voll cool, 16 zu sein“, wozu die gleichaltrige Sylvia nickt und Alexander mit 14 pfiffig grinst. Die zehn Jungen und Mädchen der 1. Gemeinschaftsschule Schöneberg sind gut gelaunt. Es geht für sie heute um den „Projekttag Zeugen der Novemberpogrome 1938“, von 9 Uhr morgens bis mindestens 14 Uhr. Sie wissen, das kann ziemlich anstrengend werden. Aber sie sind Jugendliche, pubertierende Kinder, die sich erkennbar nicht älter, altklüger oder gar pietätvoller aufführen wollen, als sie sind. Genau das erscheint interessant.

Die Zukunft der Erinnerung

Unzählige Male wird ja, mit den Daten 1933 und 1938 im Kopf, in diesem besonderen Gedenkjahr wieder gedacht, erinnert, getrauert. Zu Recht. Aber wie erreicht die ganze offizielle Gedächtniskultur noch die junge Generation der Nachnachgeborenen, was bedeutet sie für die alle Zukunft der Erinnerung (oder auch des Vergessens) einmal bestimmenden Enkel-Kinder?

Es ist ein Projekt der Schule mit dem Center für digitale Systeme (Cedis) der Freien Universität. Dieses Center gibt es seit 1998. Es entwickelt Programme für digitale Techniken in Lehre und Forschung, auch über die Universität hinaus. Im Jahr 2006 hat Cedis für die FU als erste Institution außerhalb der USA einen Kooperationsvertrag geschlossen mit der 1994 von Hollywood-Regisseur Steven Spielberg („Schindlers Liste“) gegründeten Shoah Foundation. Damit hat man in Berlin den Online-Zugang erhalten zum Visual History Archive in Los Angeles, das auf Spielbergs Initiative 52 000 Video-Interviews mit Überlebenden des Holocaust weltweit aufbereitet hat.

Brandspuren und ein zerscherbtes Geschäft

Dorothee Wein und Bernd Körte- Braun sind seit fünf Jahren am Cedis engagiert. Wein hat Politologie und außereuropäische Ethnologie studiert und jahrelang für die Gedenkstätte des ehemaligen KZ Sachsenhausen gearbeitet. Körte-Braun war als Historiker und Judaist zuvor unter anderem am Aufbau der Dauerausstellung des Jüdischen Museums im Berliner Libeskind-Bau beteiligt. Seit 2008 haben sie mit Schülern und Lehrern an gut 50 Projekttagen zum Thema „Zeugen der Shoah“ gearbeitet, und dabei im Zusammenspiel mit ausgewählten Video-Interviews der Shoah Foundation – 900 Gespräche des Archivs sind auf Deutsch geführt – eine feine Methode des Lernens aus Überlebensberichten entwickelt.

Diesmal wurden von Doro und Bernd, wie sie für die jungen Schüler heißen („bei uns wird immer geduzt“), drei Videos ausgesucht, in denen Berliner Juden auch von ihren Erfahrungen am 9. November 1938 berichten. Die drei waren damals elf, zwölf und gerade 20 Jahre alt, insoweit fast vergleichbar mit den Schöneberger Schülern von heute. Doch zuerst zeigen Wein und Körte-Braun noch ein paar Fotos von jenem 9. und 10. November. Keine bewegten Filmausschnitte, nur schwarzweiße Standbilder, die von den an eine schnelle, bunte Welt gewöhnten Jugendlichen bewusst langsam betrachtet und gelesen werden sollen. Man sieht die Berliner Synagogen in der Prinzregentenstraße und der Fasanenstraße mit Schäden im Dachstuhl und Brandspuren, dazu ein zerscherbtes Geschäft in der Potsdamer Straße.

Die Schaulust kommt ins ernste Spiel

Die Projektleiter stellen nur wenige, geduldige Fragen: Was den Schülern an den beim ersten Anblick gar nicht so spektakulären Bildern auffällt, aus welcher Perspektive der Fotograf die Aufnahme gemacht habe, welche Gründe jeweils die Nähe oder auch Ferne zum Gezeigten gehabt haben mag. Wurden die Fotos auf den Berliner Straßen aus Neugier oder gar Angst gemacht, offen oder im Hintergrund versteckt? Plötzlich erfahren die Jungen und Mädchen aus ihren eigenen Beobachtungen, dass historische Dokumente nie absolut gelten, dass Bilder (auch in ihrer Welt der Bilder) Standpunkte erkennen lassen; dass auch die Augenzeugenschaft abhängig ist von der eigenen Beteiligung oder gar Gefährdung.

Bei dem Foto mit zerstörten Schaufenstern in der Potsdamer Straße stehen Menschen im Vordergrund. Fast wie Kriminalisten beginnen sich die Schüler zu fragen, ob sie auf dem Bild Täter sehen. „Nein“, ruft Vincent, der nächste Woche 16 wird, „das sind doch alte Frauen!“ Aber sehen Menschen auf alten Fotos nicht immer älter aus? Jemand überlegt, ob es die jüdischen Ladenbesitzer seien. „Mitten auf der Straße“, zweifelt Emil. Emil und die Detektive.

Die Schaulust kommt ins ernste Spiel. Körte-Braun sagt, dass die Nazi-Presse damals unsicher gewesen sei, ob sie Bilder der Pogromnacht in den jeweiligen Städten drucken sollte. Es gab auch Misshandlungen und Tötungen, „aber das wurde offenbar nicht fotografiert“. Ein Foto zeigt indes am Tag nach der Pogromnacht einen langen Zug jüdischer Männer, die ausgerechnet im Kurort Baden-Baden abgeführt wurden. Zum Transport in Konzentrationslager.

Sie fragen unbekümmert nach

Den Zug in der Mitte der Straße flankieren SS und Polizei, aber auch an beiden Seiten drängen sich Leute, laufen Jugendliche mit. Opfer und Zuschauer. Ein Gewimmel. Uniformen, Alltagsanzüge. Artur sieht einen Mann, der sein Kind hochhebt. Damit es besser sieht? Vincent findet das „krass“. Einem Kind „so was zeigen“. Lena, 15 mit rosablonden Strähnchen im Haar, fällt auf, dass die Abgeführten irgendwie „helle Köpfe“ haben. Anders als die Schwarzuniformierten, die Behelmten. Oder die vielen Bürger mit dunklen Hüten am Rand. Jetzt meldet sich Alexander, 14: „Die Juden haben alle keine Hüte auf, nur die Deutschen.“ Emil: „Das sollte die unterscheiden!“

Dorothee Wein erklärt, dass Hüte damals zum zivilen Leben gehört hätten, und die offenkundig befohlene Barhäuptigkeit hier eine Demütigung war. „In den KZs wurden den Juden dann die Haare geschoren.“ Den Juden von den Deutschen. Und plötzlich hakt die 14-jährige Johanna ein. Sie fragte schon vorher unbekümmert nach: Was genau ist eine Synagoge? Was bedeutet „Perspektive“?

Dazu muss man erklären, dass diese kleine 9. Klasse der Gemeinschaftsschule Schöneberg eine besondere Klasse ist. Sie gehört zum Projekt „Produktives Lernen“, das ein Motto hat: „Die Stadt als Schule“. Das Modell wird bereits von über 20 Schulen in Berlin übernommen und kommt aus New York („City as School“). Kinder, die aus heute häufigen familiären oder anderen Gründen Lernprobleme haben, soll es stärker motivieren.

Von Haus aus wenig Wissen über Geschichte

An drei Tagen in der Woche geht es so tatsächlich hinaus in die Stadt. Hinein ins Leben. Da arbeiten die Jugendlichen. Lena hilft im Altersheim bei der Seniorenpflege, Emil ist in einer Motorradwerkstatt, Artur hat einen Job als Juniorkoch in einem italienischen Restaurant, und Johanna näht in einer Werkstatt für Kinderkleidung. Eine Minderheit kommt aus Akademikerfamilien, nur zwei oder drei der zehn Schüler wollen nach der 10. Klasse und der „Berufsbildungsreife“ noch versuchen, das Abitur zu machen.

Basisfächer an den zwei reinen Schultagen sind Mathematik, Deutsch und Englisch, im Übrigen gibt es für die Kinder in der Sekundarstufe einzelne „Lernbereiche“. Barbara Rübesamen, die engagierte Lehrerin der Schöneberger Gemeinschaftsschule, unterrichtet „Gesellschaft und Wirtschaft“. Hierzu gehört auch Geschichte, und Frau Rübesamen, die bei dem Projekttag in der FU das Wort absichtsvoll ihren Schülern und den beiden Projektleitern überlässt, legt Wert darauf, dass beide Weltkriege, der Nationalsozialismus, die Menschenrechte und Ausgrenzung oder Verfolgung intensiv behandelt werden. „Denn von Haus aus wissen die Schüler selten etwas über unsere Geschichte.“

Sprache der Erinnerungskultur

Und nun Johanna. Sie hebt den Finger, ihr ist etwas aufgefallen. „Warum reden wir hier eigentlich dauernd von ,Juden’ und von ,Deutschen’? Die Juden am 9. November waren doch auch Deutsche, das ist doch nicht logisch.“ Plötzlich machen zwei Sätze einer Vierzehnjährigen in einem nüchternen Uniseminarraum etwas deutlich: Dass die Sprache der Erinnerungskultur, hier und in unzähligen Artikeln, Büchern, Filmen und Diskussionsrunden, Juden in vermeintlicher Political Correctness nur wieder ausgrenzt. Juden und Deutsche. Genau diese Unterscheidung haben die Nazis mit ihrem Rassismus getroffen. Die Juden, noch bevor sie zu „Untermenschen“ erklärt wurden, waren die Anderen.

Dafür, für das Gemachte und nicht einfach Schicksalhafte der Geschichte, bekommen diese jungen Schüler ein Gespür. Das Projekt zwischen FU und Schule wird darum von der Klassenlotterie, vom Bundesfamilienministerium (Motto: „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“) und seit 2011/12 auch von der Jewish Claim Conference gefördert.

So vorbereitet, sehen die Gemeinschaftsschüler drei Videoausschnitte aus der Sammlung des Shoah Archivs. Hellmut Stern, der 85-jährig noch in Charlottenburg lebt und zuletzt Erster Geiger der Berliner Philharmoniker war. Ilse Rewald und Alfred Jachmann sind inzwischen verstorben. Sie hat mit zwanzig direkt nach dem 9. November in einer beklommenen Haustrauung, da die Synagogen geschlossen waren, ihren Freund geheiratet – aus Angst, es später nicht mehr zu können.

Ein Junge ihres Alters erfuhr so Grausames! Sie sind beeindruckt

Während viele Verwandte ermordet werden, überlebt sie im Berliner Untergrund. Alfred Jachmann hat 1944 seinen Vater in Auschwitz verloren, aber selber das Mordlager überlebt. Hellmut Stern erzählt, wie am 10. November die Schule in der Auguststraße von Nazihorden belagert wurde und wie er, gegen das Gebot seiner Lehrer, tagsüber durch das von Brandgeruch erfüllte Berlin streifte und noch im selben Jahr mit seinen Eltern nach China emigrieren konnte.

Die Schüler bearbeiten Fragebögen zu den Interviews und dürfen sich einen der drei Shoah-Zeugen auswählen, um dann an PCs, die im Raum verteilt sind, noch jeweils eine längere Passage der Videos zu sehen und die Biografien der Zeitzeugen in eigenen Worten zusammenzufassen. Fast alle schreien nun „Hellmut, Hellmut!“. Stern ist nach dem ersten spontanen Eindruck ihr Favorit, zwei Mädchen wollen sich auch Ilse Rewald widmen, deren traurige Hochzeitsgeschichte sie sehr berührt hat. Keiner möchte zunächst Alfred Jachmann und dessen Auschwitz-Geschichte.

"Eine gruselige Festung". Theresienstadt

Von Konzentrationslagern haben die Jungen und Mädchen, die in den Pausen normal herumalbern und mit ihren Handys spielen, nur vage Vorstellungen. Ein paar Hundert Menschen mussten auf Holzpritschen in einem Raum schlafen, „mit nur einem Klo“. Alexander will wissen, wie groß so ein KZ war. Dorothee Wein empfiehlt zur Anschauung einen Ausflug nach Sachsenhausen, das keiner von ihnen kennt. Artur war mit seiner früheren Schule mal in Prag, von dort hätten sie einen Ausflug in „eine gruselige dunkle Festung“ gemacht. Er meint Theresienstadt. Zwei haben „Schindlers Liste“, ohne genaue Erinnerung, zu Hause auf DVDs gesehen, und Emil erwähnt, dass ihm seine Mutter mal gesagt hat, die Nazis hätten „aus der Haut von toten Juden Lampenschirme gemacht“. Hierauf ein allgemeiner Aufschrei: „Igitt, echt? Das ist ja voll scheußlich!“

Später, als sie nach ein paar freundlichen Ermahnungen doch noch mit der Geschichte des Auschwitz-Überlebenden arbeiten, wird Alfred Jachmann zu ihrem Favorit. Nichts hat sie mehr beeindruckt als die unvorstellbare Grausamkeit, die einem Jungen in ihrem Alter widerfahren ist.

Großthemen des 20. Jahrhunderts

Ein Nachwort. Das zur Hauptsache gehört. Das Cedis-Institut wird seit der Gründung von Professor Nicolas Apostolopoulos geleitet. Der gebürtige Athener ist Wirtschaftswissenschaftler und Medienpädagoge, war, als in Griechenland die Obristen eine Militärdiktatur errichteten, 1967 als Student nach West-Berlin an die FU gegangen. Amüsiert erzählt er, wie ihn, den griechischen Bürgersohn, die von den Politologen des Otto-Suhr-Instituts befeuerte Studentenrevolte überrascht habe. Inzwischen entwickelt er mit seinen Mitarbeitern digital gestützte Programme zu Großthemen des 20. Jahrhunderts, zur NS-Diktatur und ab 2014 ein digitales Archiv zum Ersten Weltkrieg.

Das Otto-Suhr-Institut sitzt ihm nun in Dahlem direkt gegenüber. Neu und alt. Der Altbau war früher die Zentrale der NS-Rassenforscher, hierhin schickte der Auschwitzarzt Dr. Mengele die Präparate seiner Menschenversuche, unter anderem eine Sammlung von verschiedenfarbigen Augen, die Mengele nach grausigen Prozeduren Kindern und Erwachsenen entnahm. In den Kellern an der Dahlemer Ihnestraße, zu denen hinterm Haus noch sonderbare Rampen führen, finden jetzt beispielsweise Seminare zur „Sociology of Migration“ statt. Die Studenten reden Englisch und Deutsch durcheinander. Und die kleine Villa hinter den Politologen war einst das Gästehaus der NS-Rassenforscher. Dr. Mengele soll hier bei seinen Berlin-Besuchen gewohnt haben. Heute ist es der Sitz des Cedis. So schreitet die Geschichte fort, macht ungeheure Sprünge ins Neue, Bessere. Und ist doch nicht vergangen.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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