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Freie Bank. Wer allein ist, muss nicht einsam sein.

© Sebastian Gabsch, PNN

Entspannte Stunden in zwangloser Einsamkeit: Darf ich den Lockdown auch genießen?

Gemütlich lesen statt langer Kneipenabende: Darf man sagen, dass man den Lockdown genießt, während andere darüber klagen? Unsere Kolumnistin weiß Rat.

"Ich bin Single und ich genieße den Lockdown. Alle Zwänge fallen weg. Keine Endlos-Abende in Kneipen verbringen, keine anstrengenden Wochenendausflüge, stattdessen gemütlich lesen und fernsehen. Während der Videokonferenzen kann ich im Homeoffice tausend Dinge nebenbei erledigen. Meine Freunde klagen alle über die Situation, und ich traue mich nicht, ihnen zu sagen, wie gut es mir geht in dieser Zeit. Oder sollte ich doch?", fragt Anne.

Ja, ich denke, das sollten Sie unbedingt. Sie werden damit keinen Neid provozieren, wie Sie es in normaleren Zeiten täten, wenn Sie mit einer Luxusreise nach Los Angeles prahlen würden oder mit einem schicken neuen Outfit. Bestenfalls werden Sie die Freunde dazu bringen, ihre Gedanken in etwas andere Bahnen zu lenken und versuchsweise die positiven Seiten dieser Situation zu erkunden. Bei allen nervigen Einschränkungen könnte es ja durchaus sein, dass am Ende nicht nur bei Ihnen positive Partikel hängenbleiben und die Zukunft insgesamt freundlicher gestalten.

Vor Corona war der kostspielige Freizeitaktivismus in Kreisen, die sich das leisten konnten, doch schon so eine Art Automatismus. Sobald die Sonne wieder halbwegs hoch am Himmel stand, begann der Easyjet-Set hektisch die Taschen zu packen, um an jedem nur möglichen Wochenende neue Städte und Regionen zu erkunden. Das ging nicht nur ins Geld.

Wer denkt, dass Arbeit allein Stress verursacht, kennt die gähnenden Morgenstunden nicht, an denen man in aller Herrgottsfrühe in einer rumpeligen S-Bahn dem Start ins Freizeitvergnügen entgegenfährt. Natürlich kann man es sich nicht leisten, unglücklich zu sein, wenn man schließlich erschöpft an einem zwei Flugstunden entfernten Strand aufs mitgebrachte Handtuch sinkt.

[Bitte schicken Sie Ihre Fragen mit der Post (Der Tagesspiegel, „Immer wieder sonntags“, 10876 Berlin) oder mailen Sie diese an: meinefrage@tagesspiegel.de]

Das ist schließlich anerkannter Spaß im Gegensatz zu den entspannten Stunden auf dem Balkon, in denen lang aufgeschobene Lektüre nachgeholt wird und das Schokoladeneis dazu preiswert aus dem Kühlschrank kommt.

Diese Krise wird vielleicht helfen, neue Dimensionen des Freizeitvergnügens kennenzulernen und auch in Zukunft nicht pflichtschuldig dem Strom zu folgen, sondern sich guten Gewissens auch mal echte Ruhe ohne Anreise zu gönnen. Wenn Sie diese Einsicht mit Ihren Freunden teilen, können Sie das glatt als gute Tat verbuchen.

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