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Mit dem Vietnam-Kongress an der TU Berlin 1968 erreichte der Studentenprotest seinen politischen Höhepunkt.

© picture alliance / Volkmar Hoffmann

Entschlossen zwischen allen Stühlen: Wie der Tagesspiegel der Studentenbewegung begegnete

Protest gegen die USA? Das konnte der Tagesspiegel nicht gutheißen. Über die 68er berichtete er dennoch unaufgeregt und fair – wie später über die Hausbesetzer.

Die bürgerliche West-Berliner Gesellschaft wurde zu Mauerzeiten mehrmals hart auf die Probe gestellt und ihre Zeitungen mit ihr. Die große Einigkeit mit den USA, die in der Stadt gegen den SED-Staat und die russische Militärbedrohung herrschte, bröckelte spätestens mit den Protesten gegen den Vietnam-Krieg, aus denen das Phänomen „1968“ folgte, die Geburt der Studentenbewegung. Der Tagesspiegel, dessen Haltung damals stereotyp mit dem Begriff „liberal-konservativ“ umschrieben wurde, bewegte sich mit.

Die Kopie der Freiheitsglocke überbrachte der Verleger persönlich

Noch 1965 war Verleger Franz-Karl Maier zusammen mit dem Kollegen Hans Sonnenfeld vom „Abend“ nach Washington gereist, um Vizepräsident Hubert Humphrey voller Respekt eine Nachbildung der Freiheitsglocke zu überreichen. 1967, beim vereitelten Berliner „Pudding-Attentat“ der Kommune 1 auf eben jenen Humphrey, hatte sich die Weltlage geändert.

Der Tagesspiegel nahm die Sache nüchtern, anders als die notorisch empörten Springer-Zeitungen, und gab den Akteuren Raum, ihre Motive zu erklären. „Die Studenten sehen sich heute als Glieder, nicht als Zöglinge einer Gemeinschaft“, schrieb Bildungspolitik-Redakteur Uwe Schlicht, „so gesehen erfüllen die Universitätskrisen dieser Jahre nur einen gesellschaftlichen Nachholbedarf.“

In der Wertung der Motive lag der entscheidende Unterschied. Denn während die Kommune 1, Rudi Dutschke und sein SDS der eher rechtsorientierten Presse als kommunistische Unterwanderer galten, sahen Franz Karl Maier, Lokalchef Günter Matthes, Hochschul-Ressortleiter Ewald Weitz und eben Schlicht in den Aktionen, Demonstrationen und Krawallen eher den Ausdruck einer Zeitenwende, die ein liberales Blatt abzubilden, wenn auch nicht zu unterstützen habe.

„Studenten und ihre Probleme“: Ein Forum für den Protest

Journalismus als politischer Aktivismus war damals unbekannt: Erst 1976 sollte eine Runde um den Rechtsanwalt Christian Ströbele über die Gründung einer prononciert linken Tageszeitung nachdenken; der kuriose Versuch von Günter Grass („Ich rat euch, Es-Pe-De zu wählen“), Wolfgang Neuss und einigen Mitstreitern, das „Spandauer Volksblatt“ für linke Gegenöffentlichkeit in Stellung zu bringen, war schon 1964 weitgehend gescheitert.

Eine Konferenz hat allerdings nie über die neue Blattlinie entschieden. Der Verleger und De-facto-Chefredakteur Maier legte sie in Einzelgesprächen auch gegen die skeptische Politik-Redaktion fest. So nahm der Tagesspiegel entschlossen zwischen allen Stühlen Platz und setzte die Rebellen unter Zugzwang. „Studenten und ihre Probleme“ hieß die Rubrik, in der sich der AStA und andere Organisationen vom 13. Juni 1967 an jeden Dienstag unzensiert äußern durften, Vietnam und Weltrevolution ausgeschlossen.

Gründungsverleger des "Abend", Hans Sonnenfeld (li.) und Tagesspiegel-Kollege Franz Karl Maier begutachten die Konkurrenz.
Gründungsverleger des "Abend", Hans Sonnenfeld (li.) und Tagesspiegel-Kollege Franz Karl Maier begutachten die Konkurrenz.

© Tagesspiegel-Archiv

Der Kampf um den bürgerlichen Redaktionsschluss wurde allerdings ebenfalls mit äußerster Härte geführt, eine Erfahrung, an die sich die zuständigen Blattmacher später nur ungern erinnerten. Aber es ging dann auch weniger um die großen politischen Themen als um das Klein-Klein der Hochschulpolitik und den „Muff unter den Talaren“.

Tagesspiegel-Artikel an den Wänden der Hörsäle

Zu den Osterunruhen 1968 war allerdings Unerhörtes zu lesen: „Die Gewalt gegen Sachen, die seit den Osterfeiertagen von uns als Mittel angewandt und bejaht wird, ist das Ergebnis eines Erkenntnisvorgangs, der diesen Weg als einzig möglichen zur Artikulation offen lässt“. Tagesspiegel-Artikel hingen manchmal sogar an den Wänden und Fenstern der Hörsäle. Die Zeitung musste deshalb mit dem – vor allem in der Springer-Presse formulierten – Vorwurf leben, er rede den Feinden der Demokratie zum Munde. Umgekehrt wurde auf linker Seite bemerkt, dass der Tagesspiegel zwar Platz für Debatten bot, aber insgesamt nicht daran dachte, ins Lager der Studentenbewegung umzuschwenken.

Das bescherte der Rubrik ein relativ schnelles Ende, aber die Offenheit des Blattes für neue politische Strömungen blieb. Das zeigte sich in den Siebzigern auch in der Debatte um die „Regelanfrage“ beim Verfassungsschutz, mit der die Verfassungstreue von Bewerbern für den öffentlichen Dienst geprüft werden sollte. Die Taktik von Reformen und Repression hatte in die Sackgasse geführt, und das Klima war nach dem Mord an Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann und der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz aufgeheizt.

„In der Redaktion zeigte sich wieder der alte Konflikt“, wie Schlicht später schrieb: Die politische Redaktion war für die Überprüfung, Lokalchef Matthes kritisch in Einzelfällen und der Verleger empört über die ausufernde Kontrollpraxis. Schlicht bekam freie Hand – und später den Wächterpreis der deutschen Tagespresse mit der Begründung, er habe „frei von jeglichem Ressentiment das Pro und oder Kontra der Rechtlichkeit der Praxis geprüft“.

Ausgerechnet bei differenziert berichtenden Tagesspiegel drangen die Hausbesetzer ein

Die nächste bedeutende Herausforderung für die Integrität der Presse war der Konflikt mit den Hausbesetzern und die zunehmende Kritik an der Verschandelung der Innenstadt. Er zerriss nicht nur die Stadt, sondern belastete auch die Redaktionen, die sich wieder ähnlich wie bei den Studentenunruhen positionierten. Kurioserweise marschierten protestierende Hausbesetzer ausgerechnet in die Redaktion des differenziert berichtenden Tagesspiegels, um dort ihre Kritik an „stark verzerrter Berichterstattung in den Medien“ vorzutragen.

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Die Eindringlinge forderten von einem Vertreter des Verlags den Abdruck der vorbereiteten Erklärung über die Situation der Hausbesetzer sowie eine Konferenz mit den Redakteuren, beides wurde abgelehnt. Die Redaktion geriet dabei in eine durchaus widersprüchliche Situation, denn Innensenator Heinrich Lummer, der Scharfmacher und Rechtsausleger der CDU, gehörte eben jenem Weizsäcker-Senat an, dessen Wahl Lokalchef Günter Matthes gerade erst empfohlen hatte.

Empathie und formale Strenge gingen Hand in Hand

Aber die Zeitung setzte ihre 1968 gefundene Linie fort, über die Lage sachlich und ohne Parteinahme zu berichten. Empathie und formale Strenge gingen auch diesmal wieder Hand in Hand: Einerseits hieß es, Franz Karl Maier habe eine Kerze angezündet an jenem Ort, an dem der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay auf der Flucht vor einem Räumungstrupp der Polizei zu Tode kam.

Andererseits ging er schroff gegen einen eigenen Lokalredakteur vor, der als Landesvorsitzender der Deutschen Journalisten-Union nicht nur verantwortlich war für ein Flugblatt mit Beschimpfungen des Tagesspiegels und dessen Verlegers, sondern in dieser Eigenschaft auch eine Patenschaft dieser Organisation für ein besetztes Haus trug, was als Befangenheit gewertet wurde – Entlassung.

Als der betreffende Mitarbeiter nach einer für ihn positiven Entscheidung des Arbeitsgerichts wieder in der Redaktion erschien, verschlug es selbst Günter Matthes die Sprache, der seine Kolumne „Am Rande bemerkt“ für eine Weile einstellte.

Franz Karl Maier, der Tagesspiegel-Patriarch, starb 1984. Der Tagesspiegel aber setzte seine Linie fort, Fakten und Meinungen unvoreingenommen darzustellen. Liberal-konservativ, wenn man so will.

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