zum Hauptinhalt

Berlin: Else El-Khawad (Geb. 1934)

Aber sie findet, sie gehört hierher, in den Sudan

Auf dem Weg nach Khartoum, der Hauptstadt des Sudans, hält der Zug der frisch Vermählten in dem kleinen Ort Kabushiya. Nicht wie üblich eine Minute, sondern so lange, wie es der Scheich von Shendi für nötig hält, um seinen Sohn Hamid und dessen deutsche Frau Else zu begrüßen. Er ist nicht allein gekommen; eine große Ansammlung weiß gewandeter Menschen erwartet das Paar. Hamids Mutter wird zur Feier des Tages mit einem großen weißen Schirm vor der Sonne geschützt.

Else hat sich für Hamid und gegen ihre Eltern entschieden. Sie lehnen den Afrikaner ab. Obschon Hamids Familie seine Entscheidung akzeptiert, bedeutet sie auch hier den Bruch mit der Tradition. Else und Hamid brechen in ein neues Leben auf.

Bei ihrer Familie im schwäbischen Merklingen hat Else sich nicht zu Hause gefühlt. Ihren Eltern gelang es kaum, die sieben Kinder zu versorgen. Als Else vier war, gaben sie sie zur Tante. Das Gefühl, schuld daran zu sein, dass man ausgerechnet sie weggegeben hatte, blieb. Die Adoptiveltern, selbst kinderlos, erwarteten, dass Else später ihren Hof übernehmen würde. Die aber interessierte sich mehr für die Schule als für Landarbeit. Zum Glück legte der Pfarrer ein gutes Wort ein für ihren Plan, als Au-pair-Mädchen nach England zu gehen.

In Leicester studierte sie neben dem Au-pair-Job Wirtschaft, Englisch und Literatur – und lernte Hamid kennen, den Architekturstudenten aus dem Sudan. Als sie ihr Studium beendet hatten, brachen sie in seine Heimat auf.

Dort wird sie zunächst sehr dünn, weil sie vor lauter Hitze kaum essen kann. Das Haus hat keine Klimaanlage, das Geld ist knapp. Hamids Familie kommt, wie im Sudan üblich, regelmäßig für mehrere Wochen, manchmal Monate zu Besuch. Else bewirtet sie – und ist überfordert. Aber sie findet, sie gehört hierher, zu ihrem Mann und ihren drei Kindern. Hier ist das Leben, hier haben sie Freunde, Sudanesen und Menschen aus aller Welt. Mit Hamid geht Else tanzen, am liebsten zur Musik von Nat King Cole. Hamid malt in seiner freien Zeit. Meist sitzt er dann am Esstisch, um ihn herum tobt das Familienleben.

Während Hamid als Architekt für die Regierung arbeitet, verdient Else Geld als Assistentin und Übersetzerin bei der Deutschen Botschaft, bei deutschen Firmen und in Entwicklungshilfeprojekten. Seit 1975 arbeitet Hamid für die Unesco, er baut Schulen. Die Familie lebt nun im Nordjemen, später im Libanon, in Paris und in Jordanien. Alle drei, vier Jahre ziehen sie um.

Manchmal beschwert sich Else, dass sie allein die Familiendinge regeln muss. Als 1981 die israelischen Angriffe auf den Libanon zunehmen und alle Unesco-Mitarbeiter samt Familien das Land verlassen müssen, ist Hamid auf Dienstreise in Paris. Sie muss sich allein darum kümmern, die drei Kinder aus dem Land zu bringen. Im Autokonvoi nach Paris sind sie drei Wochen lang unterwegs.

Am 11. August 1991 klingelt es an der Haustür, sie wohnen jetzt in Amman, Jordanien. Else öffnet. Zwei Sekretärinnen aus Hamids Büro stehen davor: „Bitte kommen Sie mit, es ist etwas passiert.“ Vor dem Gebäude der Unesco stehen Polizisten, Journalisten und ein Krankenwagen. Darin, glaubt Else, müsse der verletzte Hamid liegen. Dann sieht sie den Leichensack. Hamid ist tot. Ein Attentäter hat ihn als Geisel genommen und erschossen. Warum, wird Else nie erfahren.

Sie zieht nach Berlin, wo ihre zwei Söhne und die Tochter leben. Dort pflegt sie bald zahllose neue Freundschaften, geht als Mitglied des Fördervereins im Haus der Kulturen der Welt aus und ein, besucht Ausstellungen und Konzerte, hütet ihre Enkel. Aber ihre Kraft lässt nach, und sie fühlt sich schuldig, wann immer sie etwas Schönes erlebt, das Hamid nicht erleben kann.

Sie wird herzkrank, kann nicht gut laufen, stürzt. Ihr Gedächtnis lässt nach. Else ergreift eine übermächtige Angst, nicht mehr selbstbestimmt leben zu können. Sie entscheidet sich für einen Tod in Würde.

Statt Blumen bitten ihre Kinder zur Trauerfeier um eine Spende für die Sudanarchäologische Gesellschaft. Sie widmet sich der Denkmalpflege der Pyramiden von Meroe, von denen aus man auf Kabushiya blicken kann. Candida Splett

Candida Splett

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false