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Berlin: Elisa Schlechter (Geb. 1940)

„Und du, was machst du so den ganzen Tag?“

Elisa wacht auf. Sie wendet den Kopf nach rechts zum Wecker auf dem Nachtschrank. Es ist drei Minuten vor sechs. Sie wendet den Kopf nach links zu Erich. Sie sieht seinen Rücken, der sich gleichmäßig hebt und senkt. Sie wendet sich ab und schaut an die Decke. Drei Minuten noch kann sie liegen bleiben. In diesen drei Minuten verschafft sie sich einen Überblick über den Tag: Frühstück machen, Robert noch einmal die Russischvokabeln abfragen, danach, wenn alle aus dem Haus sind, Erichs Hemden bügeln, in den Konsum gehen, im Gemüseladen gucken, ob es Erdbeeren gibt für den Kuchen, den sie backen will, dann schnell nach Hause, Essen kochen, die Betten machen und Staub wischen, und die Fenster müssten eigentlich auch mal wieder geputzt werden. Kurz bevor der Wecker klingelt, schaltet sie ihn aus, steht auf, streift ihr Nachthemd ab und zieht den blau gemusterten Kittel über. Der Tag beginnt.

„Ich war der Einzige in meiner Klasse, der auf die Frage, was die Mutter für einen Beruf hat, Hausfrau angab“, sagt Robert, Elisas Sohn. „Und ich war der Einzige, der nicht in der Schulkantine zu Mittag aß.“ Die meisten Frauen in der DDR gingen arbeiten. Vor Roberts Geburt war auch Elisa jeden Morgen mit dem Bus in das Büro eines Elektronikbetriebes gefahren, hatte Diktate ihres Chefs stenografiert und abgetippt, hatte Kaffee gekocht und Telefonate erledigt. Auch mit gewölbtem Bauch noch machte sie sich jeden Tag auf den Weg, leichtfüßig und selbstverständlich, begann erst in den letzten Wochen, Jäckchen und Mützchen zu stricken, ein Kinderbett und einen Kinderwagen anzuschaffen. Bis zur Krippe waren es nur fünf Minuten, und an ihrem letzten Arbeitstag überreichte ihr der Chef einen Asternstrauß: „Also Frau Schlechter, wir sehen uns ja in Kürze wieder.“

Robert kam zur Welt, wurde immer runder und rosiger, aber wenn Elisa mit ihm auf ihren Spaziergängen einer Kindergruppe und ihrer Erzieherin begegnete, schob sie den Wagen hastig weiter. „Auch mein Vater drängte sie nie, wieder zu arbeiten“, sagt Robert, „vielleicht war er sogar froh, denn ich denke, für ihn gehörte die Frau doch ins Haus. Tagsüber verdiente er das Geld und am Abend streckte er die Beine aus.“

Kinderbetreuung, Kochen, Putzen, das war jetzt Elisas Beruf. Anfangs traf sie sich noch hin und wieder mit ehemaligen Kolleginnen, die darüber klagten, dass der eine Haushaltstag im Monat nicht genügte, aber dennoch, und dabei nickten sie einander einvernehmlich zu, ein Leben ohne Arbeit, nein, das wäre doch unvorstellbar. Dann drehten sie ihre Köpfe zu Elisa: „Und du, was machst du so den ganzen Tag?“

Als Robert begann, lesen und schreiben zu lernen, malte sie ihm manchmal die Häkchen und Schnörkel des Stenografie-Alphabets auf ein Blatt Papier, und er lachte und rief, das seien doch keine richtigen Buchstaben.

„Aber obwohl sie immer da war, ließ sie mich machen“, sagt Robert. „Ich kann mich nicht an ein Gefühl der Enge erinnern. Zu dritt haben wir weite Reisen in unserem Lada unternommen, bis nach Bulgarien. Auf dem Land durfte ich immer barfuß laufen, ich lud oft meine Freunde zu uns ein, und sie war nie böse, wenn ich nach dem Spielen mit verdreckten Sachen nach Hause kam. Später, als ich in Jena studierte, schickte sie mir Pakete mit Büchern und frischer Wäsche und Bananen, nach denen sie sich ewig angestellt hatte.“

Als Erich im September 2010 starb, unvermittelt nach einem Schlaganfall, wich etwas aus ihr. Sie schien kleiner geworden, ihr Kittel hing formlos an ihrem Körper herab, ihre schönen großen Augen blickten irgendwohin.

Sie schlief bis in den Vormittag, sie deckte den Frühstückstisch für drei, sie ging in Kittel und Hausschuhen auf die Straße, kaufte zehn Gläser Marmelade und 20 Schrippen, die sie in den Kleiderschrank legte. Als die Polizei bei Robert anrief und sagte, seine Mutter habe die Milch nicht vom Herd genommen, das ganze Treppenhaus sei voller Qualm gewesen, wusste er, dass sie nicht mehr zurückfinden würde in dieses Leben.

Er sah sie in einem Krankenhausbett, ihre kalten Finger streichelten sein Gesicht und er erschrak. Er führte sie in sein Auto und fuhr sie nach Hause. Dort setzte sie sich auf einen Stuhl und sah dabei zu, wie er eine Tasche packte. „Möchtest du dieses Nachthemd, Mutti, diese Schuhe?“ Sie nickte auf jede Frage. Dann brachte er sie in ein Heim. Das Heim hatte helle, hohe Räume, die Pfleger waren freundlich, aber Elisa entschwand, wohin ihr niemand folgen konnte.

Wenige Monate nachdem sie ihr Zimmer bezogen hatte, hörte ihr Herz auf zu schlagen. Tatjana Wulfert

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