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Der Umgang mit den Ansprüchen Erkrankter belastet das Verhältnis zwischen der Polizei und Innensenator Andreas Geisel.

© imago images / Christian Ditsch

Einsatz auf kontaminierten Schießständen: Koalition gesteht Fehler bei Entschädigung ein

Die Entschädigung Betroffener Polizisten in der Schießstandaffäre lief nicht optimal, gesteht nun auch die Koalition – und gibt mehr Geld.

Nach der jüngsten Eskalation in der Schießstandaffäre der Berliner Polizei wollen Koalitionspolitiker bisherige Fehler im Umgang mit Beamten korrigieren. Künftig sollen Vielschießer und Schießtrainer auch für die Dauer ihres Einsatzes auf kontaminierten Schießständen entschädigt werden.

Das geht aus einem Änderungsbeschluss des Hauptausschusses zum Entwurf des Doppelhaushalts 2020/21 hervor. Demnach soll zusätzlich zu den bisher ausgezahlten Entschädigung noch einmal eine halbe Million Euro bereitgestellt werden. Es ist der Versuch eines Befreiungsschlags – und auch ein politischer Rettungsversuch für Innensenator Andreas Geisel (SPD).

Die Innenpolitiker der Koalition im Abgeordnetenhaus wollen mit den zusätzlichen Mitteln und vereinfachten Regeln den Streit der Beamten, die von der Schießstandaffäre betroffen sind und sich von Geisel getäuscht sehen, entschärfen.

„Nach all den Erfahrungen soll das Geld ohne eine erneute Bewertungskommission unbürokratisch ausgezahlt werden“, sagte der Grünen-Innenexperte Benedikt Lux dem Tagesspiegel. Er räumte damit auch Fehler beim bisherigen Vorgehen in der Schießstandaffäre ein.

Affäre bereits seit 2015 bekannt

Ende 2017 hatte das Abgeordnetenhaus beschlossen, einen Ausgleichsfonds für „mit dem häufigen und regelmäßigen Schießtraining auf veralteten Schießanlagen der Polizei verbundenen besonderen Belastungen“ einzurichten.

2015 war publik geworden, dass unzählige Beamte jahrelang mit Wissen der Polizeiführung giftigen Dämpfen in den maroden Schießständen ausgesetzt waren. Es ging um nichts weniger als einen massiven Vertrauensverlust innerhalb der Polizei, also der Kernbehörde des staatlichen Gewaltmonopols im Land Berlin.

Während Spezialkräfte, Scharfschützen und Personenschützer im Dienst des Staates gefährliche Situationen bewältigen mussten, setzte der Staat selbst seine Diener in den Schießständen massiven Gefahren aus. Viele Beamte erkrankten, einige an Krebs, zum Teil mit tödlichem Ausgang.

Zusammenhang zwischen Erkrankung und Schießtraining schwer zu beweisen

Innensenator Geisel hatte eine unabhängige Kommission berufen. Doch aus Sicht betroffener Beamter gab es entscheidende Fehler: Die Dauer der Tätigkeit, also die Belastung, spielte für die Höhe eine geringere oder keine Rolle, vielmehr wurden Akutbeschwerden und nachgewiesene Gesundheitsschäden stärker berücksichtigt. Denn im Gegensatz zum Parlamentsbeschluss tauchte in Geisels Erlass plötzlich das Wort „Gesundheitsstörung“ auf. Die Hälfte der potenziell 1500 betroffenen Beamten stellten daher gar keinen Antrag.

Am Ende wurden 3,3 Millionen Euro ausgezahlt, von 786 Anträgen wurden 297 abgelehnt. 328 Beamte bekamen 3000 Euro, 25 Mal wurden 7500 Euro bewilligt, 114 Mal 10 000 Euro, acht Mal 30 000 Euro, zwei Mal 40 000 Euro, sieben Mal 50 000 Euro, drei Mal 60 000 Euro und jeweils einmal 70 000 und 80 000 Euro. 113 Widersprüche wurden eingelegt, Klagen drohen. Ausgestanden ist die Schießstandaffäre nicht. Geisel, der neue Schießstände bauen lässt, hat das Vorgehen stets damit verteidigt, er habe schnell helfen wollen – auch weil ein Zusammenhang zwischen Schießständen und Erkrankungen kaum nachweisbar sei.

Mittel sollen aufgestockt werden

Inzwischen wächst auch bei den Koalitionären der Eindruck, dass es ein Fehler war, die Entscheidung über die Entschädigung einer Kommission zu überlassen – und die Innenverwaltung aus der Verantwortung zu nehmen. Offiziell äußert das aus der Koalition niemand, auch um Geisel nicht öffentlich zu beschädigen.

Der Grünen-Innenexperte Benedikt Lux sagt zumindest: „Wir haben wir uns zu sehr auf die Bewertungskommission verlassen.“ Zwar sei auf seine und der Initiative der SPD-Politiker Clara West und Tom Schreiber der Entschädigungsfonds eingerichtet worden. „Aber wir haben nicht eng genug kontrolliert, ob die Mittel auch an die Schießtrainer gehen, die jahrelang an kontaminierten Ständen geschossen haben.“ Es gehe um Beamte, deren Krankheitsbilder „nicht ganz“ in die Kriterien der Kommission gepasst hätten. Das Vorgehen „führte nicht zu der beabsichtigten Befriedung“.

Mit dem Neuanlauf im Zuge der Haushaltsberatungen soll nun nachgebessert werden. „Wir haben dem Senat aufgegeben, die 500 000 Euro für Vielschießer zu verwenden, die sehr lange an den Schießständen geschossen haben und bislang zu wenig oder gar nicht entschädigt worden sind“, sagte Lux. Diese Mittel könnten bei Bedarf auch erhöht werden. Für die unbürokratische Auszahlung solle maßgeblich sein, wie lange die Beamten in den maroden Schießständen tätig waren. Bereits ausgezahlte Entschädigungen könnten angerechnet werden.

Opferverein bezweifelt Neutralität von Kommissionsmitglied

„Ich erwarte vom Senat, dass er den Auftrag des Abgeordnetenhauses ausführt, die Lage zu befrieden, ohne Ansehen der Personen“, sagte Lux. Es liege in der Verantwortung des Landes, „die nachweislich gesundheitsschädlichen Bedingungen an den Schießständen fair und gerecht auszugleichen“. Persönliche Vorbehalte oder Kopfnoten für die Art des Engagements von betroffenen Beamten „haben hier nichts zu suchen“.

Es ist ein Seitenhieb auf die Vorsitzende der Bewertungskommission, Monika Paulat, immerhin frühere Präsidentin des Landessozialgerichts. Erst zu Wochenbeginn war ein Vermerk der Innenverwaltung bekannt geworden. In dem von Geisel persönlich abgezeichneten Vermerk wurde Paulats Meinung zum Opferverein „Biss“ aufgeführt.

Der Vermerk der Innenverwaltung ist von Innensenator Geisel (SPD) persönlich abgezeichnet.
Der Vermerk der Innenverwaltung ist von Innensenator Geisel (SPD) persönlich abgezeichnet.

© DPA/Montage: TSP

Sie warf dem Verein „Militanz“, „besserwisserische Uneinsichtigkeit“, „Ignoranz“ und „Selbstüberzeugtheit“ vor – das „darf nicht das gesamte Projekt überschatten“. Der Opferverein bezweifelt deshalb nun, dass Paulat ihr Amt in der Kommission „ohne diese subjektive Negativität ausgeübt hat“. Und diese Zweifel färben auch auf Geisel ab. Die gesamte Arbeit der Kommission gerät ins Zwielicht.

Immerhin habe das Land freiwillig entschädigt, sagt Lux, mahnt aber: „Gesundheitsschäden, die durch ein organisatorisches Versagen vieler Stellen innerhalb der Polizei verursacht worden sind, können auch durch Geld nicht wieder gut gemacht werden.“ Lux’ Vorschlag: Aus den „schlechten Erfahrungen“ lernen, nach vorn schauen und den Gesundheits- und Arbeitsschutz im Öffentlichen Dienst „zu einem echten Zukunftsthema“ machen.

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