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Berlin: Ein Zuhause aus Müll

Irene R. lebt seit Jahren allein auf der Straße Bald soll sie ihr Charlottenburger Quartier räumen

Berlin - Sechs Einkaufswagen, mit Müll gefüllte Tüten zum Ausstopfen, eine Plastikplane drüber. Das Ganze mit Holzpaneelen und Seilen befestigt. Auf dem Boden liegt Pappe. Das Zuhause der Wohnungslosen Irene R. in der Charlottenburger Fraunhoferstraße vor der lärmenden Baustelle eines Bürokomplexes fällt auf. Seit einem Vierteljahr lebt sie dort umgeben von Müll, der sie nachts wärmt, wenn der Wind kalt durch die Ritzen zieht. Vor dem Eingang stehen Plastikflaschen, in denen sie Regenwasser zum Trinken sammelt.

„Bis zum Winter muss ich weg, sonst will das Amt mich in eine Klinik einweisen“, sagt R. Sie habe sich bewusst einen Ort gesucht, an dem sie keinen störe. „Passanten machen einen Bogen um mich. Doch gibt es Menschen, die mir Essen vorbeibringen“, sagt sie. Auch das Bezirksamt sorgt sich seit Jahren um die Wohnungslose. „Wir sind regelmäßig im Kontakt mit ihr und würden sie gerne ins Hilfesystem integrieren, doch das lehnt sie ab“, sagte Stadträtin Martina Schmiedhofer. Zwar stelle sich die Frage, wie es langfristig weitergehen solle, doch gebe es bisher keine Beschwerden von Anwohnern.

R. hat eine warme Art, spricht fröhlich und schnell. Traurige Details überspielt sie mit einem Lächeln. Es müsste das Jahr 2003 gewesen sein, als sie auf der Straße landete. Zuletzt berichtete der Tagesspiegel im Winter vor zwei Jahren über sie, als sie noch vor dem Charlottenburger Standesamt wohnte.

In ihrem alten Leben hat R. als Industrienäherin gearbeitet, später einen Mann aus Ghana geheiratet und mit ihm zwei Kinder bekommen. 1994 dann die Scheidung und der Verlust der Kinder. Es folgte die zweite Ehe mit einem Mann, der ein paar Jahre später starb. Schritt für Schritt driftete sie ab. Das soziale Netz fängt sie nicht mehr auf. Nach Jahren der Geheimnisse wisse ihre Familie heute von ihrem Leben. Manchmal kämen Verwandte vorbei, um sie von einem anderen zu überzeugen. Doch die 57-Jährige hat ihr Vertrauen verloren. „Ich mag es nicht, wenn andere Menschen sich in mein Leben einmischen.“ In betreuten Wohnunterkünften habe sie zu viele schlechte Erfahrungen gemacht.

„Ihr Verhalten weist auf Verletzungen hin, die man nicht durch gutes Zureden überwinden kann. Viele haben nicht gelernt über ihre Probleme zu sprechen“, sagt der Direktor der Berliner Stadtmission Hans-Georg Filker. Der Lebenssinn gehe verloren, Materielles erscheine wertlos. „Das ist auch der Grund, warum viele aus der Isolation der Wohnungslosigkeit so schwer wieder herauskommen. Sie verstummen und reduzieren ihr Leben auf Essen, Trinken und irgendwo unterkommen.“ Wo R. im Winter wohnen wird, weiß sie noch nicht. Sicherlich irgendwo in Charlottenburg. Hadija Haruna

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